Sehr geehrter Kollege, erlauben Sie mir, mit Ihnen nicht ganz einverstanden zu sein
Orthodoxie und Toleranz, Putin und Byzanz – diese und viele andere Themen der Beziehungen zwischen Kirche und Staat behandelt Dr. phil. Protodiakon Andrey Kuraev in seinem Essay.
Статья

Erzdiakon John Chryssavgis (Patriarchat von Konstantinopel) ließ in der Zeitung „The Huffington Post“ einen Text veröffentlichen, dessen Hauptthesen folgende sind: „Viele Nicht-Orthodoxe haben von der Orthodoxen Kirche eine falsche Vorstellung bekommen. Verzerrt wird sie durch die Putinsche Variante der spirituellen Tradition, welche in Wirklichkeit die Einzigartigkeit jedes Menschen betont, der nach dem Bilde und Gleichnis Gottes geschaffen wurde. Die wahre Orthodoxie tritt für Toleranz ein, sie verficht die religiöse Freiheit und die Menschenrechte. Das falsche Bild  wurde neulich bestätigt, als Carl Bildt, der schwedische Außenminister und einer der Architekten der Ostpolitik der EU, behauptete, die Orthodoxie sei die Hauptbedrohung für die westliche Zivilisation.

Durch Putin ist ein ganz anderes Bild der Orthodoxie entstanden.

Dies ist weniger problematisch wegen der gutgemeinten Bemühungen, zwischen Guten und Bösen zu unterscheiden,  sondern vielmehr durch die arrogante Angewohnheit, die Welt ausschließlich schwarz-weiß wahrzunehmen. Auch die politischen und kirchlichen Oberhäupter in Russland machen gerne Aussagen über die „Symphonie“ der kirchlich-staatlichen Beziehungen, was eine gefährliche Anspielung auf die dominierende Politik des mittelalterlichen Byzanz darstellt, wobei kaschiert wird, dass es eben diese Politik war, die zum Niedergang von Byzanz führte.

Als Papst Franziskus und der Ökumenische Patriarch Bartholomeos I. sich am 25. Mai 2014 in Jerusalem zur Feier des 50. Jubiläums der historischen Begegnung ihrer Vorgänger in der Heiligen Stadt trafen, wurzelten ihre Motive und Bestrebungen in der Aussage „Gott ist Liebe“. Diese Überzeugung entspricht dem Wesen des orthodoxen Christentums und den bedeutendsten Aspekten der orthodoxen Spiritualität viel mehr als alles andere. Ich hoffe, dass HerrBuchanan, der römisch-katholisch ist, zusammen mit der ganzen Welt, einschließlich des schwedischen Ministers Bildt, einsehen wird,  dass das wahre Gesicht der Orthodoxie nicht Wladimir Putin, sondern Demut und Dialog ist.“ 

In Putins Politik werden Überzeugungen zum Spielball – die reale Orthodoxe Kirche läuft Gefahr, missverstanden oder, schlimmer noch, instrumentalisiert zu werden. Die ganzheitliche Vision der spirituellen und dogmatischen Grundlagen der Orthodoxen Kirche impliziert Offenheit und Aufgeschlossenheit. Die wahre orthodoxe Spiritualität ist gekennzeichnet durch Toleranz und den Dialog, den sie mit allen Menschen führt.

 

***

Nein, ich werde jetzt kein Plädoyer „zur Unterstützung Putins“ halten. Meine folgenden Erörterungen betreffen die aktuelle Politik überhaupt nicht.

Meine Vertrautheit mit der Kirchengeschichte verbietet mir aber zu glauben, dass die strahlend weiße ökumenische Orthodoxie durch das Auf- bzw. Hervortreten Putins im Jahre des Heils 2014 getrübt worden sei.

Wenn wir unter Orthodoxie den apostolischen bzw. patristischen Glauben verstehen – was hat das denn mit Putin zu tun? Es steht nicht in seiner Macht, diesen Glauben zu überschatten oder zu verzerren, denn dies ist nicht einmal dem  griechischen Kaiser Konstantin Kopronymos   gelungen.

Sprechen wir dagegen davon, dass manche Orthodoxe durch ihre Handlungen manch Andere daran hindern, unseren Glauben anzunehmen – das wissen wir ja ohnehin, eben deshalb betet jeder Orthodoxe täglich und auch nicht ohne Grund: „Rette, o Herr, diejenigen, die ich durch meine Irrtümer verführte und vom heilsamen Wege abbrachte.“

Geht es aber um die politischen Projektionen der Orthodoxie und der Nutzung des Glaubens für politische Interessen, so  fallen mir dazu Worte aus einem alten sowjetischen Film ein, der auf der Krim gedreht wurde: „Diese Kapelle wurde zerstört, noch bevor sie hier eingetroffen sind.“

Der Sergianismus begann nicht erst mit dem sowjetischen Patriarchen Sergius, sondern mehrere Jahrhunderte vor ihm und auch nicht in Russland.

Und es war nicht Putin, der auf die Idee kam, „den Schutz für Glaubensgenossen“ außerhalb seines  Lehens zu gewähren oder erobernde Reichskriege durch kirchliche Predigten und Ikonen abzusegnen.

So eroberte der heilige und wiederum byzantinische Kaiser Justinian beispielsweise Nordafrika, einen ehemaligen Teil des Römischen Reiches, von den Häretikern zurück.

Sein Zeitgenosse und Landsmann Prokopios von Caesarea schrieb: „Nur Gott und sonst niemand vermag, die genaue Zahl derjenigen, die er ums Leben brachte, einzuschätzen. Myriaden und Myriaden von Myriaden sind ums Leben gekommen. Libyen, das sich über solch riesige Räume erstreckt, wurde durch ihn so dermaßen devastiert, dass man dort eine lange Strecke durchwandern musste, um einen Menschen zu finden, und sogar das fiel sehr schwer und war sozusagen bemerkenswert. Die Zahl der Libyer, die ehemals die Städte bewohnt, die Erde bebaut und sich mit Seefischerei beschäftigt hatten – und all das hatte ich meist mit eigenen Augen gesehen – welcher Mensch hätte sie alle zählen können? Wenn jemand also behaupten würde, dass in Libyen 500 Myriaden Menschen ums Leben kamen, würde diese Zahl meiner Meinung nach deutlich unterschätzt.“ (Geheimgeschichte, 18)

Auch wenn  die von Prokopios genannte Zahl von fünf Millionen Toten sehr übertrieben sein mag, kommen die militärpolitischen Handlungen Putins auf der Krim – wie auch immer sie eingeschätzt und hochgespielt sein mögen – nicht einmal in die der damaligen byzantinischen Taten. Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland ging ohne Blutvergießen vonstatten. 

Die Geschichte der orthodoxen Welt ist sehr umfangreich. Was ist nicht alles während der vergangenen Jahrhunderte geschehen…

So wurde auf Befehl der heiligen Königin Irene (die das Siebte Ökumenische Konzil  einberief) ihr Sohn Konstantin VI. in der Purpurkammer, also da, wo er geboren worden war, geblendet.

Umgekehrt unterzeichnete Kaiser Alexios II. den Erlass zur Hinrichtung seiner Mutter mit deren eigenem Blut.

Aber nun ja, in der Geschichte der orthodoxen Länder gab es sicherlich keinen Herrscher, der schlimmer und furchtbarer als Putin gewesen wäre.

Und die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland seien sicherlich sehr bedauernswert.

Doch fanden die Ereignisse von 1111 weder in Russland noch unter Putin statt. Prinzessin Anna Komnena schrieb über die Taten ihres Vaters, des Königs, wie folgt: „Da der Autokrator ihnen [den Ketzern] nicht ohne weiteres glauben konnte, ersann er, um zu verhindern, dass etwa ein Christ als Bogomile unter die Bogomilen gemengt würde oder ein Bogomile als Christ davonkäme, ein neues Verfahren, durch welches die wirklichen Christen sicher erkannt würden. Am folgenden Tag also setzte er sich auf den kaiserlichen Thron. Viele aus dem Senat und aus der Heiligen Synode (…) waren anwesend. (…) Da runzelte er gegen sie [alle, die beschuldigt, der bogomilischen Häresie anzuhängen und  zusammen vorgeführt wurden] zornig seine Augenbrauen und sagte zu ihnen: ‚Man soll noch heute zwei Öfen anheizen, und bei dem einen von diesen soll man ein Kreuz in die Erde stecken; dann soll allen die Wahl gegeben werden: Diejenigen, die heute in ihrem christlichen Glauben sterben wollen, sollen sich von den anderen absondern und zu dem Ofen mit dem Kreuz gehen; diejenigen aber, die der bogomilischen Häresie anhängen, werden in den anderen geworfen werden. Denn als Christen ist es besser für sie zu sterben, als zu leben und als Bogomilen verfolgt zu werden und dadurch das Gewissen der Allgemeinheit zu belasten. Geht also, sowohl die einen als auch die anderen, ein jeder, wohin er will‘. Dann wurden Öfen angezündet, siebenmal stärker als üblich, wie der Melode sagt, auf dem Platz, dessen Name Tzykanisterion ist. Das Feuer loderte bis zum Himmel hinauf.  Neben dem einen Ofen stand das Kreuz. Jedem einzelnen der Verurteilten wurde die Wahl gegeben, zu gehen, wohin er wollte, auf dass sie allesamt verbrannt würden. Dann, als sie sahen, dass es kein Entrinnen gab, gingen diejenigen unter ihnen, die orthodoxen Glauben waren, zu dem Scheiterhaufen mit dem Kreuz, um wahrhaft Märtyrer zu werden; die ganz und gar Gottlosen aber, die der schändlichen Häresie anhingen, gingen auf den anderen zu. Als man sie dann zusammen in die Öfen werfen wollte, da waren alle, die dabeistanden, bekümmert über das Los der Christen, dass sie nun gleich verbrannt werden sollten, und empörten sich sehr über den Basileus, da sie die Absicht seines Plans nicht kannten. Doch erreichte gerade noch zur rechten Zeit ein kaiserlicher Befehl die Schergen und hielt sie von der Exekution zurück. Da aber der Autokrator auf diese Weise diejenigen, die wirklich Bogomilen waren, sicher erkannt hatte, entließ er die zu Unrecht beschuldigten Christen mit vielen guten Ermahnungen; jene aber hielt er wieder in verschiedenen Gefängnissen gefangen. (…) Einige von ihnen ließen sich zum Besseren bekehren und wurden aus der Gefangenschaft entlassen, die übrigen aber hielten an ihrer Häresie bis zum Tode fest, im Kerker gefangen gehalten, allerdings reichlich mit Nahrung und Kleidung versorgt.

Basileios allerdings, da er das eigentliche Haupt der Häresie war und keinerlei Reue zeigte, hielten sämtliche Mitglieder der Heiligen Synode (…) sowie auch der damalige Patriarch Nikolaos des Feuertodes für würdig. So gab er [der Autokrator] Befehl, einen riesigen Scheiterhaufen auf dem Hippodrom anzuzünden; man hatte eine gewaltige Grube ausgehoben, eine große Menge Holz zusammengetragen, alles langstämmige Bäume, die aufgeschichtet sich ausnahmen wie ein Berg. Dann zündete man den Scheiterhaufen an, und eine große Menschenmenge versammelte sich  allmählich in der Arena und auf den Zuschauerrängen des Hippodroms, und alle warteten gespannt darauf, was geschehen würde. Auf der anderen Seite wurde ein Kreuz aufgestellt und dem Gottlosen die Wahl gegeben, falls er doch noch aus Furcht vor dem Feuer seine Meinung ändere und zu dem Kreuz ginge, dass er dann vom Feuertod befreit sei. (…) Die Schergen hoben ihn hoch und warfen ihn (…) mitten in die Glut. Und (…) verzehrte den Gottlosen die Flamme (…) Was die übrigen Anhänger der verderblichen Lehre des Basileios angeht, so war das umstehende Volk begierig und drängte danach, auch sie ins Feuer zu werfen“ ( Anna Comnena. Alexias, 15,9-10[1]).

„Die arrogante Angewohnheit, die Welt ausschließlich schwarz-weiß wahrzunehmen“ – solch eine Formel ist für die byzantinische Rhetorik ganz typisch, wo es einst zum guten Ton gehörte, über Widersacher etwa wie folgt zu schreiben: „Fehlgeburten des Irrsinns – ich rede von diesen nichtigen Männlein, die nicht einmal begrüßungswürdig sind“ (Vita von Niketas von Medikion , 38).

Eben das byzantinische Prinzip der Symphonie implizierte, dass die Kirche auf die sittliche Analyse von Kaiserbefehlen nicht im Einzelnen eingeht, sondern seine politischen und militärischen Entscheidungen gehorsam segnet (im Austausch für den Gehorsam des Kaisers gegenüber der Kirche in Fragen darüber, wer als Orthodoxer und wer als Häretiker anzusehen war).

Eben in Byzanz wurde ein Vorgesetzter von rednerischen Bischöfen vom Kopf bis zu den Füßen geleckt, wobei seine rhetorischen Kunstgriffe an der Grenze zur Blasphemie lagen.

Eben in Byzanz wurde es üblich, dass durch die Salbung zum Kaiser diesem alle vorher begangenen Sünden verziehen wurden (einschließlich der Ermordung des vorigen Kaisers).

Und da wird dabei behauptet, dass „durch Putin ein ganz anderes Bild der Orthodoxie entstanden ist“?

Wie schlecht Putin einem auch immer vorkommen mag - er könnte dem historischen Bild der byzantinischen Orthodoxie kaum neue Schatten hinzufügen. Höchstens könnte er eine „Frohe-Ostern-Atombombe“ abwerfen (wie es das amerikanische Militär bereits getan hat, allerdings getrennt – es hat Atombomben auf Städte abgeworfen und warme Osterworte auf die Bomben geschrieben, die es dann auf die orthodoxen Serben abwarf).

Wenn ein Mädchen aus der Gemeindeschule in schönen Worten, erfüllt von der unvergleichlich hohen Spiritualität der Orthodoxie sagt, „wir haben nie jemanden verfolgt“, „nie Kriege begonnen“, „nie Kreuzzüge geführt und nie Inquisition gekannt“, „unser Glauben ist zutiefst tolerant“ – das ist verzeihbar. Wenn aber ein mehrfach diplomierter ausgebildeter Kleriker dasselbe sagt…?

Es ist schwer, ein ehrlicher Orthodoxer zu sein (allerdings immer noch leichter als ein Katholik), denn dann musste man mit einem tiefen Seufzer zu sehr vielen Dingen sagen: „Ja, das ist ja dann auch meins.“

In den Jahrtausendenden unserer Geschichte haben sich in unserer historischen Sparbüchse nicht nur große Heilige, sondern auch ausgesprochene Schurken ganz unterschiedlicher kirchlicher Ränge angesammelt, und noch mehr – einfach alle möglichen Menschen, in deren Leben Episoden der Barmherzigkeit und des Gebets sich mit solchen der Unmenschlichkeit und Brutalität überraschenderweise abwechselten.

Wenn ich aber keine Lust habe, eine zuckersüße Kirche zu beschwören, die nur meinem eigenen Traum entspräche; wenn ich der wirklichen Kirche teilhaftig werden möchte, die ihre Geschichte durch Dutzende von Ländern und Jahrhunderte und durch Millionen menschlicher Schicksale von den Aposteln bis in unsere Tage reicht; wenn ich Johannes Chrysostomos und Gennadios II. Scholarios als unsere Verwandten, als unsereins ansehen möchte – was dann? Dann dürfte ich auch die Nicht-Heiligen, welche aber die Heiligen seinerzeit nicht aus ihrer Kirche exkommunizierten, nicht auch als Fremde ansehen.

Wir wissen ja, wie wohlfeil die Eigenwerbung daherkommt, welche die Sekten betreiben; wie ihre sympathischen Anwerber mit leuchtenden und naiven runden Augen die unbequemen Seiten der eigenen Genesis bzw. Geschichte leugnen. Würden wir Orthodoxen auch so eine Vogel-Strauß- Mentalität an den Tag legen, würde es nicht zu unserer Würde beitragen. 

Ehrlicher wäre es, so zu sprechen, wie Schriftsteller Graham Greene es tat.

In den 1970er Jahren war es in Italien Mode, einen Dialog zwischen Kommunisten und Katholiken zu führen. Auch Greene als Vertreter der katholischen Intellektuellen wurde von den Kommunisten einmal zu so einem Treffen eingeladen. Die Stimmung war explosiv, aber Greene löste die Spannung mit seinem allerersten Satz auf und gewann so das Publikum für sich. Er trat ans Rednerpult und sagte: „Wissen Sie, sowohl Sie Kommunisten als auch wir Katholiken haben vieles gemeinsam.“ Dann wartete Greene, bis der Applaus abbebbte, und sprach dann weiter: „Sowohl eure als auch unsere Hände sind voller Blut“.

Wer betrügerischerweise das Bild einer in jeglicher Hinsicht perfekten, „modernen Orthodoxie“ malt, wird genau die „Enttäuschung“ säen, welche Vater Erzdiakon John Chryssavgis so viel Angst macht. Wenn Sie einem frisch Getauften garantieren, dass alle Menschen, die zur Orthodoxie kommen, automatisch jederzeit menschengerecht, aufgeklärt, tolerant, hochzivilisiert, gesund, nüchtern usw. sein wird, kann Ihre Entzückung eines Tages in Entzauberung und Enttäuschung umschlagen.

Was würde passieren, wenn ein amerikanischer Gesprächspartner, entzückt von der Toleranz des Vaters Erzdiakon, erfahren würde, dass es im modernen orthodoxen Griechenland bis 1982 keine außerkirchlichen Eheschließungen gab? Wer sorgte für die Aufhebung dieser intoleranten Einschränkung? Der Synod oder Europa? Was würde ein Amerikaner denken, wenn er von den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte namens „Kokkinakis gegen Griechenland“ (1993) und „Larissis gegen Griechenland“ (1998) hört, nach denen Menschen in Griechenland für Versuche, Gesprächspartner zu ihrem Glauben zu bekehren, wegen „Proselytismus“ verurteilt wurden?

Deswegen bitte ich – nicht als Putinist, sondern als Mensch mit Geschmack und einer gewissen missionarischen Erfahrung: liebe Väter, bitte seien Sie ehrlich.

Hätte der Vater Erzdiakon John Chryssavgis seine Meinung anders formuliert, nämlich als Wünsche und Hoffnungsäußerung, hätten sie gestimmt. Etwa so: „Die wahre Orthodoxie ist berufen, die Einzigartigkeit jedes Menschen, der in dem Bilde und nach dem Gleichnis Gottes geschaffen ist, zu schätzen. Hätte sie die Toleranz akzeptiert und die religiöse Freiheit und Menschenrechte verfochten, hätte sie, meiner Meinung nach, der evangelischen Lehre mehr entsprochen“. Es wäre ehrlicher gewesen, so zu reden. Aber auch hier gäbe es Vorbehalte, denn in der Welt, in der auch der Vater Erzdiakon lebt, wird unter Menschenrechten allzu oft das Recht verstanden, alle möglichen Schandtaten zu begehen…

Es lohnt sich nicht, den orthodoxen Glauben und die orthodoxe Geschichte den heute allgemein akzeptierten Standards politischer Korrektheit anzupassen. Sonst würden wir in naher Zukunft vielleicht hören, die Erfindung des Mönchtums sei die größte Leistung der Orthodoxie für die Menschheit, da sich die Kirche durch die Gründung des  Klostersystems schwulenfreundlich gezeigt und so den Homosexuellen die Chance zur gefahrlosen Auslebung ihres alternativen Lebensstils gegeben hätte.

Und ganz unvorteilhaft wäre es, das Ideal als vergangene Realität auszugeben, bereits verwirklicht, bevor Putin gekommen sei… Nein, ehrlich ist das nicht.

Meine Einstellung zu Putins Ukraine-Politik ist kompliziert. Denn „diejenigen, die das Recht vor Rebellen schützen, dürfen nicht rebellieren“ (Tolkien, Silmarillion, 6).

Nach dieser Formel haben sowohl die Kiewer Protestierer gegen die kriminelle Macht von Janukowitsch & Co. Unrecht – indem sie Kiewer Polizisten lebendig verbrannten, gingen sie über den Rahmen des von ihnen so sehr begehrten europäischen Rechtsraumes deutlich und weit hinaus. Aber auch der Schutz der Krim-Bewohner vor diesen „hinreißenden Zündlern“ ging nicht parlamentarisch vonstatten…

Etwas seltsam ist, dass der amerikanische Bürger in all den Geschehnissen in der Ukraine das traditionelle Problem der amerikanischen Justiz nicht erkannte – nämlich die Frage nach den Grenzen der berechtigten Notwehr. Diese Frage ist äußerst kompliziert. Aber auch wenn  jemand bei der Lösung einen Fehler gemacht haben sollte, bedeutet das nicht, dass sich darin eine dämonische Begierde nach hemmungsloser Erweiterung seiner Macht manifestiert und er zur Schande der ganzen Menschlichkeit geworden wäre…

Wie auch immer: Putin hat nie behauptet, dass seine Ukraine-Politik durch irgendwelche heiligen Ideale motiviert sei.

Es war der byzantinische Kaiser Herakleios , der den Krieg mit den Persern für heilig erklärt hatte; deswegen prangte an den Segeln seiner Militärschiffe die Gottesmutterikone. Gab es aber solche Zeichen an den Uniformen der sprichwörtlichen „höflichen grünen Männchen“ auf der Krim?

„Jedes unserer Unternehmen und jede unserer Handlungen beginnen wir immer im Namen des Herrn Jesu Christi. ER ließ uns Afrika erlösen und unserer Macht unterordnen. ER gibt uns die Kraft, den Staat weise  zu verwalten und ihn in unserer Gewalt zu behalten. Deswegen weihen wir unser Leben seiner Vorsehung und bereiten unsere Regimenter und unsere Feldherren vor“, verkündete Justinian triumphal (Codex Iustinian 1,27,2) –  über den durch ihn veranlassten Terror in Afrika.

Hat Putin etwas Ahnliches gesagt?

Ich erinnere mich an kein einziges Mal, dass Putin in seinen Reden Handlungen Russlands auf der Krim oder im Südosten der Ukraine mit orthodoxer Thematik verbunden hätte. Mit Problemen der Sprache, des Gases, der Wehrkraft, der Minderheitsrechte – das ja, gelegentlich. Ich habe aber nie gehört, dass er gesagt hätte, dass „wir auf die Krim gegangen sind, um dort die orthodoxe Idee durchzusetzen“ oder „wir unterstützen den Kampf von Donbass, da mein geistlicher Vater es mir so sagte“, oder „Gott richtet uns“. In Amerika kann man wahrscheinlich besser hören. Es war wohl ich, der schlecht gehört und etwas verpasst hat…

Ebenfalls habe ich nie gehört, dass Patriarch Kyrill die Vereinigung der Krim mit Russland bzw. die Trennung des Donbass von der Ukraine unterstützt hätte.  Patriarch Kyrill war nicht einmal bei der feierlichen Sitzung des Parlaments, in der das Abkommen über das Eintreten der Krim in die Russische Föderation unterzeichnet wurde. Und im Gegensatz zu den Patriarchen von Konstantinopel im 17. Jahrhundert, welche auf Befehl des türkischen Sultans die ukrainischen Hetmane  mehrmals verdammten (so wurde 1670 beispielsweise Hetman Demjan Mnogogreschnij anathematisiert), hat Patriarch Kyrill keine ukrainischen Politiker oder  Teilnehmer des heutigen nationalen ukrainischen Konflikts durch diese kirchliche Waffe geschlagen.

Aber auch das ist wahrscheinlich wieder nur eine Trübung meines Sehvermögens. Der Patriarch ist groß, und hier in Moskau bin ich in seiner Nähe – deswegen habe ich es nicht gemerkt. Mein Kollege aus der amerikanischen Ferne sieht sicherlich alles besser.

Hat die Rede Seiner Eminenz Demetrios (Trakatellis), amerikanischer Erzbischof des Patriarchats von Konstantinopel, bei der Inauguration Obamas am 21. Januar 2013 wirklich niemanden nachdenklich gemacht?

„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. O Gott, wir preisen und loben deinen heiligen Namen für deine all-gütigen Gnaden und deinen Segen auf unseren Präsidenten Barack Obama und den US-Vizepräsidenten John Biden, denn sie beginnen die zweite Amtszeit ihrer heiligen Pflichten in der obersten Behörde unseres Landes. Segne, behüte und stärke sie und ihre Familien in Ruhe und guter Gesundheit zusammen mit allen, die unserem Land dienen, insbesondere im Kongress, bei den Gerichtsorganen und beim Militär hier und überall, welche unsere Rechte auf Leben, Freiheit und Glück heldenhaft  beschützen. Himmlischer Vater, mögen wir in diesem Lande der Chancen und der Freiheit in ‚vollkommener Ruhe‘ verbleiben, getreu unseren Prinzipien und eine immer mehr blühende, gerechte, gleichberechtigte und würdige Gesellschaft für alle unsere Bürger bauen.“

All das wurde gesagt nach der Zerschlagung Libyens und dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, der immer noch andauert.

Wenn der Erzdiakon behauptet, heute sei „durch Putin ein ganz anderes Bild der Orthodoxie entstanden“, stellt sich unvermeidlich die Frage: wie stellte sich die amerikanische Gesellschaft die Orthodoxie denn noch gestern vor? War sie etwa in die Orthodoxie verliebt? Strömte sie massenhaft in unsere Kirchen? Wurde in den griechischen Gotteshäusern der USA bereits auf Englisch und Spanisch zelebriert?

Das bezweifele ich. Was wären aber dann die Verluste, die Putin der amerikanischen Orthodoxie zugefügt haben soll? Wird Erzbischof Demetrios nun etwa seltener eingeladen, an Frühstücksandachten mit Senatoren teilzunehmen? Das wäre nicht so schlimm; ich kenne eine Dame im US-Außenministerium, die stets ein Körbchen mit belegten Brötchen und Keksen zum Verteilen parat hat[2].

Jedenfalls vielen Dank an Vater John dafür, dass er uns zum Denken und Diskutieren provoziert hat. Die Bemühung des Erzdiakons des Patriarchats von Konstantinopel, den Byzantinismus zu einer reinen, aufgeschlossenen und toleranten Orthodoxie einzudampfen, ist äußerst interessant. Ist es aber wirklich so, dass die griechische Orthodoxe (und damit auch die von Istanbul) die byzantinische Schatz und die byzantinische Geschichte derart pessimistisch einschätzt? Wie lebensfähig würde das erarbeitete (und erarbeitet von wem?) Destillat sein?

Ich bin froh, dass mein amerikanischer Kollege seine Pflichten  als Diakon nicht nur auf „Wieder-und-wieder[3]“- Sprüche undlautstarkes Schreien „Auf viele Jahre[4]“ für seine Bischöfebeschränkt. Ich bin froh, dass er sich um die Probleme der Mission und der Verkündigung der Orthodoxie in der Welt kümmert. Die von ihm gewählte Methode halte ich aber für wenig aussichtsreich. Seine rosarote Brille ist zu fragil.

Und für die Warnung bezüglich Carl Bildt – ein extra Dankeschön.

Quelle:  http://www.pravmir.ru/uvazhaemyiy-kollega-pozvolte-koe-v-chem-s-vami-ne-soglasitsya/#ixzz3G8YRB1BJ

 


[1] http://books.google.ru/books?id=tlxbJ0-xL4MC&pg=PA544&lpg=PA544&dq=bogomilen+scheiterhaufen&source=bl&ots=UbOFHY1CFL&sig=IaPjOVzq28aCX8tVppZrPu_Ta2w&hl=de&sa=X&ei=MApAVNLCBcLmyQPCx4DABA&ved=0CCMQ6AEwAQ#v=onepage&q=bogomilen%20scheiterhaufen&f=false 

[2] Victoria Nuland, Europa-Beauftragte des US-Außenministeriums, verteilte Anfang 2014 bei einem Staatsbesuch in Kiew Kekse auf dem Maidan. (Anm. d. Ü.)

[3] Der Spruch „Wieder-und-wieder“ ist Bestanteil derEktenie (eines Teiles des
Gottesdienstes). (Anm. d. Ü.)

[4] „Auf viele Jahre“ ist die traditionelle orthodoxe  Form der Begrüßung und Glückswunsch. (Anm. d. Ü.)

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