Um die russische orthodoxe Kirche zu verstehen, genügt es nicht, am Fernsehen zuzuschauen, wie Putin oder Medwedjew in einem feierlichen Gottesdienst ihr Kreuz schlagen, auch nicht die Hierarchen in ihren prachtvollen liturgischen Gewändern zu bewundern oder einem stimmgewaltigen Chor zuzuhören. Es geht auch nicht an, über die anscheinende Rückständigkeit von Vertretern der russischen Kirche den Kopf zu schütteln. Die russische orthodoxe Kirche ist heute die grösste orthodoxe Kirche unter den über 15 autokephalen (ihr Oberhaupt selbst wählenden) orthodoxen Kirchen mit annähernd 200 Bischöfen - zur schlimmsten Sowjetzeit gab es noch deren drei! Es ist kaum mehr vorstellbar, unter welchen Schwierigkeiten diese Kirche sich durch die über 70 Jahre Sowjetherrschaft gerettet hat, mit Verfolgung, Blutopfern, Unterdrückung, Benachteiligung, aber auch mit Anpassung und Unterwerfung.
Das eigene Lebenszeugnis
Eine Ahnung von dieser Lebensweise vermittelt ein Interview, das der damalige Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, Kyrill (Gundjajev) dem damaligen Igumen (Abt) Hilarion (Alfejev) im Jahre 2001 gegeben hat. Kyrill (heute 63-jährig) ist unterdessen Patriarch von Moskau und der ganzen Rus' geworden, Hilarion (43-jährig) ist schon seit einiger Zeit Bischof von Wien und Österreich. Kyrills Vater und Grossvater waren schon Priester, z. T. unter schrecklichsten Umständen, und der junge Mann musste sich sein Theologiestudium erkämpfen. Offenbar schon früh wurde seine Intelligenz und Arbeitskraft erkannt, und so wurde er in wichtige Ämter berufen. Kurze Zeit (1981-1984) war er beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf tätig, seit 1989 war er Leiter des kirchlichen Aussenamtes, was ihn weithin bekannt gemacht hat, seit 1976 im Rang eines Bischofs. Die Nachkriegszeit mit dem End-Stalinismus hat er noch erlebt, er musste dann mit den auf- und abwogenden Haltungen des Regimes gegenüber der Kirche sich auseinandersetzen und sich selbständig eine der Tradition verpflichtete, dem Neuen aber offene Haltung aneignen. Allüberall hat er Vorträge gehalten, Artikel geschrieben, kirchliche Stellungnahmen vorbereitet, federführend begleitet und proklamiert. So war denn seine Wahl zum Patriarchen allgemein auf Zufriedenheit und viel Hoffnung gestossen.
Grundlinien eines Denkens im Glauben
Das Institut für Ökumenische Studien (I.S.O.) an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü. hatte schon letztes Jahr eine Sammlung von Arbeiten des Metropoliten Kyrill vorbereitet. Er war der Institutsleitung bestens bekannt, die ihm 2005 die «Silberne Rose des hl. Nikolaus» überreicht hatte, als erstem Preisträger dieser sowohl akademischen wie kirchlichen Auszeichnung für Personen, die in ihrem Leben, Denken und Wirken für die Kirche Gottes vorbildlich tätig sind. Unter dem Titel «Freiheit und Verantwortung im Einklang. Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft» ist er als erster Band der Schriftenreihe «Epiphania» im Selbstverlag des I.S.O., Avenue de l'Europe 20, 1700 Freiburg erschienen, in rotes Leinen gebunden, mit Goldprägung und Lesebändchen und 239 Seiten.1 Die Reihe will bewusst solid gestaltet und schön ausgestattet sein. Den Herausgebern (Barbara Hallensleben, Guido Vergauwen, Klaus Wyrwoll) ist zu danken, dass sie diese Beiträge zugänglich machen (sie waren letztes Jahr schon französisch erschienen), die der Patriarch weitgehend selbst ausgelesen hatte. Es geht um Denkbemühungen aus einer tief verwurzelten Glaubenshaltung heraus. Das Buch umfasst vier Teile: Persönliche Begegnungen - Aufmerksam für die Zeichen der Zeit - Zeugnisse gemeinschaftlicher Aufbrüche - Grundlegende Dokumente. Hier finden wir also auch offizielle kirchliche Texte, die zusammen mit den persönlichen Ausführungen des Autors - der oft diese Texte kommentiert -, ein adäquates Bild der russischen orthodoxen Kirche darstellen.
Theologische Sozio-Anthropologie
Das etwas komplizierte Wort möchte unterstreichen, dass es hier um Stellungnahmen geht zu Problemen, die «alle Welt» angehen, das Menschsein in Gesellschaft, und zwar aus theologischer Sicht. Die russische Kirche muss aus einer jahrzehntelangen aufgezwungenen Stagnation herauskommen und sich einer Überfülle von Problemen stellen: beim Wechsel der Regierungsform im eigenen Land; bei der Kenntnisnahme aller anderen christlichen Kirchen, mit denen man wohl kirchen- (und staats-)offiziell im Kontakt war, mit denen man aber erst jetzt offen reden kann; sodann bei der Berührung mit den Weltreligionen (von denen der Islam und das Judentum in der alten Sowjetunion und jetzt in Russland und in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten sehr wohl präsent waren und sind), und schliesslich bei der Globalisierung, die auch Russland nicht unberührt lässt. Patriarch Kyrill baut eine theologisch begründete Anthropologie, die Folgen hat für das Sozialverhalten in Staat und Gesellschaft, im eigenen Land und in der Beziehung mit den anderen Ländern und Kirchen.
Der unbedarfte Leser könnte beim flüchtigen Lesen leicht stolpern, denn Kyrill sagt Dinge, die man im Westen nicht gerne hört. Er plädiert dafür, dass die Kirchen - ja die Religionen überhaupt - sich viel energischer in den internationalen Diskurs einmischen, offen ihre Position verteidigen und selbstbewusst für ihre Rechte eintreten. Insbesondere verwahrt er sich dagegen, dass die «Menschenrechte», die ja häufig ohne Mitwirkung der Kirchen verhandelt und festgelegt werden, eine Art übergeordneter Instanz werden, denen sich die Kirchen und ihre Gläubigen insgesamt zu unterwerfen hätten. Er hat den Eindruck, dass man sich im «Westen» allzu leicht über die Gefühle, Überzeugungen, Ansichten der Christen hinwegsetzt und via Mehrheitsbeschlüsse ihnen Haltungen aufdrängt, die sie zuinnerst gar nicht teilen. Und in der Tat: Eine Mohammed-Karrikatur gilt zwar nach langem Geschrei schliesslich ungern für verpönt, aber christliche Symbole werden leicht geschmäht oder gar abgeschafft. Im Namen eines vagen Liberalismus können auf Antrag einzelner Menschen traditionelle religiöse Symbole aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Bestimmte sittliche (besser: unsittliche) Verhaltensweisen werden nicht nur geduldet, sondern propagiert und systematisch unter der Bevölkerung verbreitet, bis man resigniert die Waffen steckt. Es ist vielleicht gut, die Klagen und Mahnungen eines Menschen anzuhören, der Jahrzehnte unter totalitärem Regime gelebt hat, und der gerade deswegen den Totalitarismus privater Meinungen, die Öffentlichkeitsrecht beanspruchen, zurückweist. Manche Begriffe wie «kanonisches Territorium» oder die ernsten Vorbehalte gegenüber der römisch-katholischen Kirche bedürfen des geduldigen Gesprächs.
Wichtig sind für Kyrill Begriffe wie «Wert» (russisch: cennost') und «Würde» (dostojnostvo), die er auf die biblische Aussage, der Mensch sei «nach dem Bild und Gleichnis Gottes» geschaffen, zurückführt. Wie schon Gregor von Nazianz bezeichnet er mit diesen beiden Begriffen einmal den «Wert» als gottgeschaffen, mit der Natur des Menschen verbunden, und die «Würde» als vom Menschen in Synergie mit Gott erstrebt und in der Tat des freien Willens verantwortungsbewusst verwirklicht. Kyrill bestreitet keineswegs die Berechtigung der freien Wahl des Menschen für seine persönliche Selbstverwirklichung, er möchte nur den Kirchen und den Religionen insgesamt und der vielfach sonst verbreiteten Weltanschauung zu mehr Resonanz verhelfen. Hier tut sich ein grosses Feld ökumenischer Zusammenarbeit auf.
Iso Baumer war Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg i. Ü. und an der Theologischen Schule der Abtei Einsiedeln.
Veröffentlicht mit der freundlichen Genehmigung von Prof. Dr. Barbara Hallensleben