Freitag, 7. 11. 2008, Universität Wien, Katholisch-Theologische Fakultät
Die kirchlichen Lehranstalten der Russischen Orthodoxen Kirchen haben eine doppelte Funktion: Ausbildung und Forschung. Im Rahmen des Referats werde ich eine Kurzcharakteristik des Studienprogramms mit statistischen Daten geben, die besonders die Moskauer Geistlichen Schulen betreffen. Ebenso berührt diese Darstellung die Forschungsschwerpunkte an kirchlichen Einrichtungen.
1. Dreistufige Theologische Ausbildung
Das System der theologischen Ausbildung der Russischen Orthodoxen Kirche besteht aus Bildungsanstalten in drei Stufen: kirchliche Fachschulen, Geistliche Seminare und Geistlichen Akademien. Die Geistlichen Akademien stellen die oberste Stufe dar, das heißt die nächste Stufe der theologischen Ausbildung nach dem Seminar. Somit studieren nur Absolventen der Geistlichen Seminare an den Akademien. Vor der Aufnahme ins Seminar müssen die Bewerber Prüfungen in biblischer Geschichte, Katechismuslehre, Kirchengeschichte, Russischer Sprache und Kirchenmusik ablegen - Kenntnisse in diese Fächern können die Abiturienten entweder in orthodoxen Gymnasien, an Sonntagsschulen in Pfarrgemeinden oder autodidaktisch erwerben.
Die kirchlichen Fachschulen sind gesondert zu betrachten, weil sie nicht als Vorbereitungsstufe für die Seminare gelten, da nur Abiturienten (Maturanten) der allgemeinbildenden Schulen in die Seminare aufgenommen werden. Sie sind praktisch orientierte Schulen, deren Absolventen als Psalmisten und Kirchenküster (Messner) in den Pfarrgemeinden tätig sind. Zum Teil werden sie auch wegen des konstanten Priestermangels zu Diakonen oder zu Priestern geweiht. Aber eine solche Praxis wird nur geduldet und nicht gefördert, also nicht als Normalfall gewertet. Wenn Absolventen kirchlicher Fachschulen im Seminar studieren wollen, können sie sofort ins zweite Studienjahr aufgenommen werden, obwohl das Studium an solchen Fachschulen drei oder vier Jahre dauert. Für die Aufnahme ins Seminar brauchen sie auf jeden Fall das Abitur.
Heutzutage verfugt die Russische Orthodoxe Kirche über fünf Geistliche Akademien: die Moskauer Geistliche Akademie im Kloster von Sergiev Posad, die Minsker Geistliche Akadamie im Kloster von Zirovici, die Kiever Geistliche Akademie und die Geistliche Akademie in Kisinev (Moldavien). Weiteres betreibt die Kirche über 40 Geistliche Seminare und 40 kirchliche Fachschulen. Nur ein Seminar davon befindet sich außerhalb der traditionellen Gebiete der Russischen Orthodoxen Kirche (kanonisches Territorium), nämlich in Jordanville im Staat New York. An einigen Akademien und Seminaren sind Ikonenmalerschulen und Chorleiterschulen eingerichtet. Die Gesamtzahl der Studierenden an kirchlichen Bildungsanstalten aller dieser drei Stufen beträgt ca. 6.000, dazu noch etwa 3.000 Fernstudenten. Die Geistlichen Akademien zählen etwa 1.100 Studenten, dazu etwa 1.000 Fernstudenten.
Eine besondere Bedeutung im kirchlichen Ausbildungssystem haben die Moskauer Geistliche Akademie und das Moskauer Geistliche Seminar. Statistische Daten zur Situation der Moskauer Geistlichen Schulen (Seminar und Akademie) sind folgende: Im Studienjahr 2007/08 betrug die Zahl der Studenten im Seminar 356, an der Akademie 160. 85 Studenten sind Kleriker, davon 43 Diözesanpriester, 10 Mönchspriester, 30 Diakone, 2 Mönchsdiakone. Jeder dritte Student an der Akademie ist Kleriker, im Seminar jeder zehnte.
Während des Studienjahrs 2007/08 haben zwei Studenten der Akademie die Mönchsgelübde abgelegt. 62 Studenten aus dem Seminar bzw. der Akademie wurden geweiht, davon 36 zu Diakonen und 26 zu Priestern.
Ausbildungsreform und Spezialisierung
In den 1990er Jahren und am Anfang des 21. Jh. wurde das System der geistlichen Ausbildung der Russischen Orthodoxen Kirche grundlegend reformiert. Dabei wurde die Dauer des Studiums im Geistlichen Seminar von vier auf fünf Jahre verlängert. Somit wurden die Seminare zumindest formell zu Hochschulen umgewandelt und Studienpläne und Lehrinhalte entsprechend adaptiert. Im Zusammenhang damit wurde die Dauer des Studiums an den Akademien von vier auf drei Jahre verkürzt. Eine weitere Neuerung besteht darin, dass an den Akademien eine Spezialisierung auf vier Studienrichtungen eingeführt wurde. Die Hälfte der Studienzeit an der Akademie ist vorlesungsfrei, sodass Studenten diese Zeit für das Verfassen der Dissertation nützen können. Gleichzeit wurde durch die Reform das Niveau von Dissertationen gehoben -zumindest an der Moskauer Akademie. Damit sollen die Dissertationen das Niveau vergleichbarer Arbeiten an weltlichen Fakultäten in Russland und theologischen Fakultäten in den meisten westeuropäischen Staaten erreichen.
Die vier Studienrichtungen oder Fachrichtungen der akademischen Ausbildung sind folgende: Bibel Wissenschaft, Theologie, Kirchengeschichte und Praktische Theologie. Zur Praktischen Theologie gehören Kanonisches Recht, Liturgik, Pastoraltheologie, Homiletik und kirchliche Archäologie, Die Richtung Theologie beinhaltet die Fächer Dogmatische, Moral- und Fundamentaltheologie, Patrologie und Vergleichende Theologie (Konfessionskunde). Alle diese Studienrichtungen, die im Konzept der Theologischen Ausbildung vorgesehen sind, sind bis heute nur an der Moskauer Geistlichen Akademie eingeführt worden. An der Petersburger Akademie werden nur zwei Studienrichtungen angeboten, und an anderen Akademien bleibt eine derartige Differenzierung des Studiums nur eine Perspektive für die Zukunft. Die Differenzierung oder Spezialisierung der akademischen Ausbildung gründet in den Beschlüssen der Bischofskonzile der Jahre 1989, 1994 und 1997, die das Ziel der Akademien folgendermaßen definiert haben: Sie sollen zu theologischen wissenschaftlichen Anstalten werden und hauptsächlich Lehrkräfte für Geistliche Seminare und Spezialisten auf dem Gebiet der Theologie, der Kirchengeschichte und des kanonischen Rechts heranbilden.
In der Periode von 2005 bis 2008 wurden an der Moskauer Geistlichen Akademie 24 Dissertationen verteidigt, die den Forderungen des neuen Standards mehr oder weniger entsprechen. Die Zahl der Absolventen der Akademie ist etwa viermal größer als die Zahl der erfolgreich verteidigten Dissertationen. Aber jene Absolventen, die alle Prüfungen erfolgreich abgelegt haben, bekommen auch ohne Dissertation Diplome, die die Beendigung des vollen Studiengangs der Akademie bestätigen. Sie sind als Lehrende an Geistlichen Seminaren und kirchlichen Fachschulen oder an anderen kirchlichen Dienststellen tätig. Sie haben weiterhin das Recht, zu einem späteren Zeitpunkt ihre Dissertation zur Verteidigung vorzulegen. Man kann hoffen, dass die Hälfte oder ein Drittel von ihnen darin noch Erfolg haben wird.
Parallel dazu wurden auch die Anforderungen an das Niveau der Diplomarbeiten der Absolventen der Seminare gehoben. Diese Diplomarbeiten werden heutzutage nicht nur vom Betreuer, sondern auch von einem Rezensenten bewertet. Die Dissertationen sollen von mindestens zwei Rezensenten bewertet werden, davon soll einer unbedingt nicht aus dem Haus sein, d.h. er soll an einer anderen Institution tätig sein, also nicht an der Akademie, wo die Dissertation verteidigt wird. Außerdem sollen die Dissertationen vor der Verteidigung am Lehrstuhl approbiert, sozusagen vorverteidigt werden. Die Verfasser dieser Dissertationen sollen ein Referat, eine Kurzdarstellung der Dissertation halten und einige Artikel zum Thema der Dissertation veröffentlichen, zumindest in Internetportalen. Noch eine Maßnahme zur Hebung des Niveaus der Dissertationen ist die Teilnahme von Wissenschaftlern anderer Institutionen am Dissertationsrat.
Die Geistliche Akademie ist eigentlich ein Überbau im System der theologischen Ausbildung. Das Fundament bildet das Geistliche Seminar, eine Hochschule, wie schon gesagt, mit fünfjähriger Studiendauer. Mehr oder weniger kann man unser Seminar mit einer theologischen Fakultät oder noch mehr mit einem katholischen Seminar, das eine volle Ausbildung für seine Studenten bietet, vergleichen. Lehrpläne der Geistlichen Seminare schließen folgende Fächer ein: Katechismuskunde, Dogmatische Theologie, Fundamentaltheologie, Vergleichende Theologie (Konfessionskunde), Moraltheologie, Pastoraltheologie, Biblische Geschichte, Altes und Neues Testament, Allgemeine Kirchengeschichte, Geschichte der Orthodoxen Ortskirchen, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche, Patrologie, Liturgik, Kirchenmusik, Kirchenkunst, Kanonisches Recht, Homiletik, Missiologie, Sektenkunde, Religionsgeschichte, Einführung in die Philosophie, Philosophiegeschichte, Geschichte der russischen religiösen Philosophie (d.h. Werke gläubiger Philosophen), Byzantinistik, Geschichte Russlands, Pädagogik, Stilistik der russischen Sprache, Rhetorik, Kirchenslawisch, Latein, Altgriechisch, eine Fremdsprache (Englisch, Deutsch oder Französisch) und fakultativ Hebräisch und Neugriechisch. Eine Besonderheit der Seminarausbildung besteht darin, dass auf dieser Stufe keine Spezialisierung eingeführt ist. Derzeit werden Vorschläge zur Differenzierung zusätzlich zur Diplomarbeit diskutiert. Das Schwergewicht der Spezialisierung liegt bis jetzt in der Diplomarbeit.
Lehrbücher
Eines der Probleme, die noch zu lösen sind, besteht im Mangel an Lehrbüchern für Seminaristen. Nur ein Teil der Fächer, die unterrichtet werden, ist mit genügend Lehrbüchern ausgestattet. Teilweise werden Lehrbücher, die vor einem Jahrhundert geschrieben wurden, benutzt. Meistens ist ihr Niveau hoch genug, aber sie sind selbstverständlich veraltet. Beim Unterricht einiger Fächer werden bis jetzt sogar jene Skripten benutzt, die in den Nachkriegsjahren als Schreibmaschinenkopien in der Auflage von 10 bis 20 Exemplaren erstellt wurden. Sie sind heute nicht weniger weit verbreitet als die vorrevolutionären Lehrbücher, die zwar genauso veraltet aber doch niveauvoller sind. Beim Unterricht von einigen Fächern werden Notizen benützt, die Studenten beim Hören der Vorlesungen anfertigen. Aber die Situation auf diesem Gebiet ist prinzipiell besser, als sie vor der Wende, in der kommunistischen Epoche war. Denn heute können die besten Vertreter alter und neuer Theologen wiederaufgelegt bzw. erstmals veröffentlicht werden. Es ist also nicht wie früher ein Problem katastrophalen Fehlens theologischer Literatur, sondern eigentlich ein Problem fehlender passender Lehrbücher, das allmählich gelöst wird. Jedes Jahr erscheinen eines oder ein paar neue Lehrbücher.
2. Wissenschaftliche Forschung
Geistliche Akademien, teilweise auch Seminare sind gleichzeitig die wichtigsten theologisch-wissenschaftlichen Institutionen der Russischen Orthodoxen Kirche. Zu solchen gehören selbstverständlich auch die Universität vom heiligen Patriarchen Tichon, das Orthodoxe Institut vom heiligen Apostel und Evangelisten Johannes dem Theologen und das wissenschaftliche Zentrum „Orthodoxe Theologische Enzyklopädie". Jedoch können die neuen theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten nicht dazugerechnet werden, weil sie aus verschiedenen Gründen noch zu schwach sind.
Die meisten Professoren, Dozenten und Lehrenden der Geistlichen Akademien veröffentlichen regelmäßig Artikel und von Zeit zu Zeit auch Monographien und Lehrbücher. Ein vielversprechendes Beispiel erfolgreicher Wiederbelebung der kirchlichen Wissenschaften ist gerade die von mir schon erwähnte Orthodoxe Enzyklopädie, deren achtzehnter Band vor kurzem veröffentlicht wurde. Einen bedeutenden Beitrag zu diesem umfangreichen Werk bringen Lehrkräfte der Geistlichen Lehranstalten, aber in enger Mitarbeit mit weltlichen Wissenschaftlern, von denen ein nicht zu vernachlässigender Teil bewusst der Orthodoxen Kirche angehört und gute Kenntnisse auf dem Gebiet der Kirchengeschichte und teilweise auch der Theologie hat.
An den Akademien soll wissenschaftliche Forschung im Rahmen der Lehrstühle durchgeführt werden. Teilweise findet das auch statt, aber nur teilweise. Meistens ist das wissenschaftliche Ergebnis der Lehrstühle nur eine Summe der individuellen Tätigkeit von Professoren und Dozenten, und doch gibt es ein Beispiel gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit an der Moskauer Geistlichen Akademie: Am Lehrstuhl für Biblistik werden Kolloquia bzw. Symposia veranstaltet.
Lassen Sie mich die Hauptrichtungen wissenschaftlicher kirchlicher Forschung an der Moskauer Geistlichen Akademie darstellen: Die Biblistik konzentriert sich auf die patristische Exegese von Bibeltexten. Ungeachtet des persönlichen Einsatzes der Bibelwissenschaftler mangelt es doch an Kennern von Hebraistik und biblischer Archäologie. Auf dem Gebiet der russischen Kirchengeschichte sind es Nachforschungen in staatlichen Archiven und die Sichtung von Dokumenten, die die allgemeine Geschichte der Verfolgung der Kirche im 20.Jh. betreffen. Eng damit verbunden ist das Thema der Lebensgeschichte der neuen Märtyrer und Bekenner. Auf dem Gebiet der dogmatischen oder systematischen Theologie ist das Thema der Eucharistie und im Kontext des langjährigen Dialogs mit den orientalischen, nichtchalzedonensischen Kirchen das christologische Thema aktuell. Im Zusammenhang mit den interkonfessionellen und ökumenischen Kontakten sind die neuesten Entwicklungen in der Theologie und im Leben der katholischen Kirche und in der protestantischen Welt von Interesse.
Chancen und Schwierigkeiten nach der Wende
Die Situation unserer Kirche und der theologischen Ausbildung hat sich in den letzten zwanzig Jahren im Vergleich zur Sowjetzeit grundlegend geändert. Ich würde sie nicht als günstiger, sondern als „schonender" bezeichnen, weil sie vor der Wende auf keinen Fall günstig waren. Heutzutage ist unsere Kirche tatsächlich frei, möglicherweise und in einer bestimmten Hinsicht freier sogar, als sie es in der Zeit des Staatskirchentums war. In der sogenannten Synodalperiode, d.h. seit Peter dem Großen bis zur Revolution von 1917 war die Russische Orthodoxe Kirche eine Staatskirche, die von der Zarenregierung abhängig war.
Aber wie immer ist die Kirche und das kirchliche Ausbildungssystem mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert. Als wichtigstes Problem kann man das finanzielle nennen. Das Budget der Kirche setzt sich ausschließlich aus Spendenmitteln zusammen und erhält keine Zuschüsse vom Staat. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Pfarrgemeinden vervierfacht. Ein bedeutender Teil des Kirchenbudgets wurde für Restaurierung und den Aufbau von Kirchengebäuden eingesetzt. (Der Staat beteiligt sich nur an der Restaurierung von Kirchen, die als Baukunstdenkmäler gelten.) So bleibt für die Finanzierung der kirchlichen Lehranstalten nicht viel übrig. Trotzdem ist die Zahl von theologischen Lehranstalten seit 1988 von acht auf etwa neunzig gestiegen.
Noch eine Herausforderung, die uns heute beschäftigt, ist die sogenannte Akkreditierung bzw. Anerkennung von kirchlichen Diplomen durch den Staat. Nach den jüngsten Beschlüssen der Staatsbehörden ist eine solche Akkreditierung rechtlich möglich. Die Schwierigkeit besteht aber in einer fehlenden Kongruenz des staatlich anerkannten theologischen Studienplans an weltlichen Universitäten und des kirchlichen Studienprogramms. Das im August des vorigen Jahres beschlossene Ausbildungskonzept der Russischen Orthodoxen Kirche sieht die Intensivierung der Verbindung mit einheimischen und ausländischen Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Institutionen vor. Darum gewinnt die Anerkennung kirchlicher Diplome eine besondere Aktualität.
3. Schlussfolgerung
Das System der theologischen Ausbildung hat für die Russische Orthodoxe Kirche von heute eine lebenswichtige Bedeutung. Denn in den kirchlichen Lehranstalten werden Priesteramtskandidaten und Mitarbeiter der Kirche ausgebildet. Von der Situation des kirchlichen Ausbildungssystems hängt die Zukunft der Kirche ab.
Zwei Jahrzehnte der kirchlichen Freiheit ermöglichten die Wiederbelebung der theologischen Wissenschaft trotz finanzieller Schwierigkeiten. Darum ist es unsere Pflicht das Niveau der Forschung weiter zu steigern, um auch international kooperieren zu können.
Prof. Dr. Vladislav Cypin, Moskauer Geistliche Akademie, Sergiev Posad, russ.-orth.