Erzpriester Sacharija Kerstjuk: In Libyen achtet man die Christen
Originalinterview: Jelena Werbenina, www.pravmir.ru: Während der anhaltenden Bombardements in Libyen sprach Erzpriester Sacharija Kerstjuk, Gemeindevorsteher der Kirche des hl. Apostels Andreas des Erstberufenen an der Botschaft der Ukraine in Tripolis (Libyen) mit einem Korrespondenten des Portals „Pravoslavie i mir“ über Libyen und darüber, wie sein Dienst vor der Evakuierung der Ukrainer verlief, sowie über die Regierung Gaddafi.
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Die Libyer begegnen dem Christentum mit Achtung

Libyen ist ein Land, in dem religiöse Toleranz herrscht. In diesem in sich geschlossenen islamischen Land, das nach den Gesetzen der Scharia lebt, kann man Vertreter verschiedenster Konfessionen antreffen. Es gibt Gemeinden des Patriarchats von Alexandria, der Römisch-Katholischen Kirche, der Koptischen Kirche, verschiedener protestantischer Strömungen – Anglikaner, Lutheraner und andere. Und ihnen allen ist es offiziell erlaubt, ihre Gottesdienste abzuhalten, Rituale und Traditionen zu befolgen und ihre Gläubigen geistlich zu betreuen.

Die Libyer selbst sind ein sehr religiöses Volk. Der Glaube ist unabdingbarer Bestandteil ihres Lebens. Der Koran hat den gleichen Stellenwert wie das „Grundgesetz“ – das Grüne Buch, das seinerseits viele Zitate aus dem Koran enthält. In religiöser Hinsicht kann man Libyen mit dem Iran, Irak, Pakistan oder Saudi-Arabien vergleichen, wo das Verhältnis zum Islam eher radikal geprägt ist. Doch die Libyer sind sehr tolerant, sie verfolgen und bedrängen die Christen nicht, sondern das Christentum wird von ihnen geachtet.

In manchen Augenblicken schien es mir sogar, dass sie die Christen höher schätzen, als wir die Moslems. Die Libyer kümmerten sich sehr darum, dass uns nichts Böses widerfährt. Zu größeren Festtagen stellten sie unseren Gemeinden Wachpersonal zur Verfügung und kümmerten sich um Recht und Ordnung in deren Umkreis. Besonders nach der Explosion in einer koptischen Kirche in Alexandria (Ägypten) wuchs ihre Sorge. Die Machthaber waren sehr besorgt darüber, dass sich dergleichen nicht in ihrem Lande ereigne. Das würde sich ja in erster Linie auf dem internationalen Verhältnis zu diesem Lande niederschlagen.

 

Der Dienst in Libyen

Die Gottesdienste fanden in der Kirche des hl. Apostels Andreas des Erstberufenen statt, die sich auf dem Territorium der ukrainischen Botschaft befindet. Diese Kirche ist nicht groß. Die Gemeinde bestand aus Menschen unterschiedlicher Nationalitäten – Serben, Bulgaren, Rumänen, Griechen, Zyprioten, es gab sogar Spanier. Der Großteil bestand aber natürlich aus Ukrainern, Russen und Weißrussen.

Ukrainer sind in Libyen größtenteils im medizinischen Bereich und in der Luftfahrt beschäftigt. Die Russen sind größtenteils in der Erdölindustrie und bei der Russischen Staatseisenbahn beschäftigt. Da die Leute unter der Woche ihrer Beschäftigung nachgehen, fanden die Gottesdienste an den freien Tagen – also freitags und samstags – statt. 

Viele unserer Landsleute arbeiteten außerhalb der Hauptstadt, deswegen ist es oft vorgekommen, dass ich in andere Städte reiste und Gottesdienste einfach in Wohnungen und Häusern stattfanden. Die Menschen kamen mit Freuden zum Gebet, zu geistlichen Gesprächen und zu gegenseitiger Unterstützung zusammen. Mehr noch, sie nahmen aktiv am Gottesdienst teil – sangen, lasen Gebete. An diesen Orten spürte ich tatsächlich das Bedürfnis der Menschen an geistlichem Rat, ich sah, wie wichtig ihnen solche Zusammenkünfte waren. Es gab unter ihnen ja viele, die jahrelang nicht nur Libyen nicht verlassen haben, sondern kaum von ihrer Arbeitsstelle weggekommen sind.

 

Die Libyer achten orthodoxe Heiligtümer

An einem freien Tag lud mich der Botschafter der Russischen Föderation, Wladmimir Tschanow, zu einer Besichtigung der Ruinen einer uralten libyschen Stadt ein. Dort zeigte er mir eine zerstörte orthodoxe Kirche aus der Zeit des Byzantinischen Reiches, deren Baptisterium erhalten geblieben ist. Mich hat damals sehr verwundert, mit welcher Ehrfurcht gegenüber „unserem“ Heiligtum die Libyer auftreten. Ich musste mich sofort an die Beschreibung der Ereignisse von vor Jahrhunderten erinnern, als die Europäer Kreuzzüge ins Heilige Land, nach Jerusalem, unternahmen. Damals zerstörten sie islamische Heiligtümer bis auf die Grundmauern. Als jedoch Jerusalem unter Sultan Saladin unter die Herrschaft der Moslems geriet, wurde kein einziges der christlichen Heiligtümer zerstört.

 

In Libyen fühlt man sich frei

Ungeachtet dessen, dass Libyen ein ziemlich abgeschottetes Land ist, fühlt man sich dort frei. Man spürt nicht die ständige Anspannung, die man aus Ägypten, der Türkei oder Syrien kennt. Möglicherweise liegt das darin begründet, dass die Libyer nicht so sehr von Touristen oder allgemein Ausländern verwöhnt sind. Auf jeden Fall wird man in Libyen keinen Menschen antreffen, der 

Dollars für irgendwelche Hilfestellungen verlangt. In der ganzen Zeit meiner Anwesenheit vor Ort hat es nicht einen einzigen Konflikt mit der libyschen Bevölkerung gegeben. 

 

Die Verhältnisse im Land

Wenn ich mich zu den jüngsten Ereignissen äußere, kann ich nicht im Namen der Kirche sprechen, sondern nur meine eigene Meinung wiedergeben. In Libyen gibt es keine Menschen, die mit der Regierung unzufrieden wären. Wenigstens habe ich nie von solchen gehört. Alles das, was im Fernsehen gezeigt wird, existiert so nicht. Alles, was euch aus diesem Land und den Ereignissen dort berichtet wird, müsst ihr durch 100, oder gar durch 1000, teilen.

In Libyen gibt es eine kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Bildung, zwei Personen pro Familie werden auf Staatskosten im Ausland ausgebildet (die Möglichkeiten reichen von London oder New York bis Moskau oder Kiew), es gibt keine Mietzahlungen, Strom ist kostenlos, für die Bevölkerung ist die Gasversorgung kostenlos, der Erlös aus dem Export der natürlichen Rohstoffe wird unter der Bevölkerung zu gleichen Teilen verteilt (das ergibt ungefähr 400 US-Dollar pro Monat). Es gibt ein umfangreiches Sozialpaket. Und vor kurzem wurden auch noch die Steuern abgeschafft.

Was denkt ihr, können Menschen unter solchen Bedingungen mit der Regierung unzufrieden sein? Meiner Ansicht nach ist alles, was in den Medien gezeigt wird, pure Übertreibung. Habt ihr im Fernsehen auch nur ein einziges Mal [von „Regierungstreuen“ – Anm. d. Ü.] zerbombte Städte, zerstörte Häuser, hunderte von Toten gesehen? Warum wird das nicht gezeigt, genau, wie jene nicht gezeigt werden, welche Gaddafi verraten haben sollen? Ich schätze, solches gibt es im Land gar nicht.

 

Die Libyer nennen Gaddafi liebevoll „Papa“

Sie können mir glauben, ich habe in Libyen gelebt und jeder, der dort gewesen ist, wird meine Worte bestätigen – die libysche Gesellschaft unterstützt Gaddafi. Zurzeit gibt es im ganzen Land Großdemonstrationen mit tausenden Teilnehmern zu seiner Unterstützung. Es gibt nichts dergleichen zur Unterstützung der Opposition. Ich schalte den Fernseher ein, wo Protestler gezeigt werden, und dabei wird gesagt, sie protestieren gegen Gaddafi. Warum tragen diese Menschenmengen jedoch das grüne Banner Gaddafis, und nicht die Trikolore der Aufständischen?

Libyen ist ein Land, das von Stämmen bestimmt wird. Es gibt dort um die dreißig Stämme, die administrativ in Regionen unterteilt sind. Untereinander sind sie vollkommen friedlich, was ich für das Zeichen einer gesunden Politik halte. Es gibt keinen Streit, mit der Regierung gibt es keine Zerwürfnisse. Sie werden nirgends im Land auch nur ein Gaddafi-Denkmal finden – er ist gegen so etwas. Er ist ja nicht einmal der Präsident, sondern eher der Führer seines Volkes, welches ihn liebevoll „Papa“ nennt. Kennt ihr denn viele „Führer“, die sich keine Orden, Medaillen und Titel zuerkennen? Er ist ja nicht einmal ein General. So, wie er vor 20 Jahren ein Oberst war, ist er auch einer geblieben. Er hat keinerlei juristische Hebel, mit denen er die Regierung steuern könnte, sondern sein Verdienst besteht darin, dass er alles recht aufbauen und einrichten konnte.

Ich bin der Meinung, dass – gäbe es die ausländische Einmischung nicht – Gaddafi für Ordnung gesorgt hätte. Alles deutete darauf hin.

Vater Sacharja hofft, bald an den Ort seines Dienstes, nach Tripolis, zurückkehren zu können.


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