1974
Es gibt verschiedene Feste. Heute gedenken wir des Einzuges des Herrn in Jerusalem. Dies ist eines der tragischsten Feiertage des gesamten Kirchenjahres. Scheinbar ist es ein Tag des Triumpfes: Christus kommt in die Heilige Stadt, Ihn empfängt eine Menge von jubelnden Menschen, die bereit sind, Ihn zu ihrem politischen Führer zu machen und die von Ihm erwarten, dass Er den Feind besiegen wird. Liegt etwa hierin etwas tragisches?
Oh doch! Und Wie! All dieser Jubel, all diese Hoffnungen beruhen auf einem Missverständnis, sie fußen auf tiefem Unverständnis. Die selbe Menschenmenge, die heute „Hosanna dem Sohne Davids" schreit, d.h. „Freue Dich Du Sohn Davids, König von Israel", wird sich in einigen Tagen voller Hass gegen Ihn wenden und Seine Kreuzigung fordern.
Was ist geschehen? Das Volk Israels hatte von Ihm erwartet, dass Er, nachdem Er in Jerusalem eingezogen ist, als der erwartete Messias, der das Volk Israel von seinen Feinden befreit, alle irdische Macht in Seine Hände nimmt, der Zeit der römischen Besetzung ein Ende setzen, alle Feinde besiegen und für alles Leid Rache nehmen wird.
Engegen dieser Erwartung zieht Christus in die Heilge Stadt leise ein, um dort Seinem Tod engegen zu gehen. Die Anfüher des Volkes, die so viel Hoffnung auf Ihn gesetzt hatten, wiegeln das Volk nun gegen Ihn auf. Sie sind abgrundtief von Ihm enttäuscht. Er ist nicht der erwartete, Er ist nicht der, auf Den sie ihre gesamte Hoffnung gesetetzt hatten. Und Christus geht in den Tod. Was aber bleibt allein übrig? Was verheisst uns Christus mit Seinem Tod?
Im Verlaufe dieser Tage spricht er zu dem Volk, was es für ein Schicksal zu erwarten hat, wenn es an Ihm vorbeigeht, wenn es Ihn nicht erkennt, wenn es Ihm nicht folgt. Christus, der Heiland spricht: Sehet, euer Haus wird leer sein, von nun an wird auch euer Tempel leer sein, leer sein wird auch euer gemeinsames Haus, eure Seele werden öd sein, ebenso werden auch eure Hoffnungen versiegen. Alles wird sich in eine große Wüste verwandeln ...
Denn das einzigste, was die Ödnis eines Menschen in einen blühenden Garten verwandeln kann, das einzigsten, was dem, was sonst Asche wäre, Leben schenken kann, das einzigste, was die Gemeinschaft von Menschen gesund und voller Leben sein lässt, das einzigste, was einen Menschen im Verlaufe seines Lebens auf einem wasserreichen Fluss zu seinem Ziel gelangen lässt, ist die Anwesenheit des Lebendigen Gottes, der allem endlichen und zeitlichem ewiges Sein verleiht. Die Anwesenheit Gottes, der so Groß ist, dass vor Ihm nichts groß und nicht klein ist, weil alles vor Ihm so bedeutsam ist, wie auch für die Liebe alles wertvoll ist. Die kleinsten und unscheinbarsten Worte können im Mysterium der Liebe so kostbar und bedeutsam sein, große Ereignisse jedoch manchmal so nichtig.
Euer Haus wird leer sein ... Das Volk suchte nach der irdischen Freiheit, nach dem Sieg auf Erden, nach irdischer Macht. Seine Anführer wollten Macht haben und durch sie siegen. Was jedoch ist von der zur Zeit Jesu lebenden Generation des Volkes Israel geblieben? Wo ist heute das Römische Reich? Was ist aus all denen geworden, die einst Macht hatten und dachten, dass niemand ihnen diese Macht wird nehmen können? Nichts. Manchmal existieren noch Gräber, meist jedoch nur das freie Feld.
Und Christus? Er hat keinerlei Gewalt, keine Macht ausgeübt. Er ist für die, die Ihn nicht verstehen, auch deshalb so unverständlich. Er hat alles vermocht. Er hätte die Menschenmasse, die Ihn so jubelnd begrüßt hatte, vereinen können, aus ihr eine Kraft entstehen lassen können und mit ihr die politische Macht erobern. Dies jedoch hat Er abgelehnt. Er blieb kraftlos, hilflos, verletzlich und endete scheinbar unterlegen am Kreuz in einem Tod voller Schmach, verspottet durch viele, deren Gräber heute längst verschwunden sind, deren Gebeine, deren Asche längst durch den Wüstenwind verweht ist ...
Uns jedoch hat Christus Leben verheissen. Er hat uns gelehrt, dass es ausser der Liebe, ausser der Bereitschaft in seinem Mitmenschen den größten Schatz auf Erden zu sehen, nicht anderes gibt. Er hat uns gelehrt, dass die Würde eines Menschen so groß ist, dass Gott Mensch werden konnte, ohne dabei sich Selbst zu erniedrigen. Er hat uns gelehrt, dass es keine nichtigen Menschen gibt und dass Leid einen Menschen nicht zerstören kann, wenn er nur vermag zu lieben. Christus hat uns gelehrt, dass es auf die Leere des Lebens nur eine einzige Antwort gibt, nämlich der Hilferuf zu Gott: Komm Herr, Komm schnell! ...
Nur Gott kann die Tiefen des Menschseins, in denen die Leere klafft und die niemand zu füllen vermag, mit Sich selbst füllen. Nur Gott kann das menschliche Miteinander Harmonie werden lassen, nur Gott vermag die furchtbare Ödnis des Lebens in einen blühenden Garten verwandeln.
Wie furchtbar ist es, wenn wir heute des Einzuges des Herrn in Jerusalem gedenken, zu sehen, wie ein ganzes Volk den Lebendigen Gott, der einzig gekommen war, um von der grenzenlose Liebe zu künden, zuerst begrüßte und sich danach jedoch von Ihm abgewandt hat, weil ihnen nicht nach Liebe der Sinn stand, weil es nicht Liebe war, was sie suchten, weil es sie erschreckte, so lieben zu sollen, wie Christus es ihnen gelehrt hatte: bereit zu sein ganz für die Liebe zu leben ja sogar für sie zu sterben. Sie zogen das Irdische vor. Das wollten sie, danach dürsteten sie. Doch geblieben ist davon nichts, nur leere Ödnis. ...
Die wenigen jedoch, die die Stimme des Heilandes erhörten, die die Liebe wählten und die Niedrigkeit nicht fürchteten, die bereit waren, ihr Leben und ihren Tod für die Liebe zu geben, die erhielten, so wie es Christus ihnen verheissen hatte, das Leben, Leben in Fülle, das Leben als Sieg, als Triumpf. Das alles ist das Fest, welches wir heute begehen. Es ist ein Tag grausamster Missverständnisse. Für die einen wird ihr Haus leer sein, anderen ziehen in das Haus Gottes ein und werden zu Tempeln des Heiligen Geistes und das Lebens selbst wird in ihnen leben.
Amen