Sonntag des Vergebens
„Verzeiht mir! Mir, den der Herr dazu beauftragt hat, für euch Tag und Nacht durch Gebet, Liebe und mit all meiner Kraft zu sorgen. Verzeiht mir, dass ich dies so wenig tue. Verzeiht mir, dass ich meiner Berufung nicht wirklich nachkomme. Verzeiht mir und gebt mir dadurch die Chance, dass auch Gott mir vergeben wird! Wenn mir die Kräfte ausreichen, wenn ich es vermag, wirklich Buße zu tun, wenn ich wieder rein und erneuert sein werde, dann werde ich euch mit neuer Hingabe versuchen zu dienen, mit der Hingabe, zu der mich der Herr berufen hat und die mir all zu oft wegen meiner Sündhaftigkeit, meiner Bosheit und Verantwortungslosigkeit nicht gelingen mag." - aus einer Predigt zum Sonntag des Vergebens von Metropolit Antonij von Sourosh.
Статья

17. Februar 1980

Warum kommen die Menschen, ebenso wie wir auch viele, viele andere, in die Kirche? Warum schliessen sie sich der Kirche Christi an? Etwa nicht deshalb, weil die Kirche ein Ort ist, den man  immer aufsuchen kann, weil man weiss, dass die Leute in der Kirche die Menschen lieben, dass sie sie annehmmen als Brüder und Schwestern, als Kinder, als Eltern, dass man in der Kirche aufgenommen wird voller Zärtlichkeit, Ehrerbietung und Fürsorge ...?

Wir lieben Gott und die Kirche ist der Ort, an dem Gott uns mit Seiner Liebe, Seiner Einfühlsamkeit und Seiner Sorge um uns entgegenkommt, ein Ort, wo niemand überflüssig ist, wo jeder gern gesehen ist, wo die Menschen einander nicht fremd sind, wo alle - wie es der Apostel ausdrückt - ebenso zu einander wie auch zu Gott gehören.

Es kommen verschieden Menschen in die Kirche. Bildlich ausgedrückt, kommen die einen mit voller Elan und all der Herrlichkeit gesunder, geistiger Reife. Andere kommen wie Kinder, noch unberührt und rein von jeglichem Bösen und von der Sünde und vielleicht nur verletzt durch Grausamkeiten der Welt. Doch bei den meisten Menschen, bei den meisten von uns, lastet ein ganzes Leben auf den Schultern und das Leben hat schwere Narben hinterlassen: Blinde, die das Licht Gottes nicht mehr sehen, wie leuchtet und Funken schlägt auf allem, was uns umgibt, wie es aufschenit in und aus jedem Menschen. Blinde, die durch das Sichtbare den Blick für das Unsichtbare verloren haben, für die die Welt eng und dunkel geworden ist wie ein Gefängnis und die in die Kirche kommen, weil sich hier für sie neue Räume auftun, eine Tiefe, eine Weite, in denen es Licht gibt, in denen Leben ist. Es kommen Leute, die das Leben fast zugrunde gerichtet hat, die sich verloren haben in all der äußerlichen Welt, die sich schon zur Erde neigen, in denen das ewige Leben scheinbar nur noch auf kleiner Flamme brennt.

Wir alle treffen uns in der Kirche, weil jeder von uns einmal erfahren hat, dass es hier Leben gibt und Hoffnung, dass hier die Liebe Gottes über allem schwebt. Jeder von uns ist hier geliebt und deshalb ist auch jeder hier seinem Heile nahe. Die Liebe Gottes ist stärker als der Tod, mächtiger als das Böse. Die Liebe Gottes bedeutet Leben für uns und wir alle haben verstanden, dass diese Liebe Gottes auch von den Menschen begriffen worden ist, und dass auch wir Menschen, es deshalb, wenn auch nicht vollkommen, weil wir alle in gewisser Weise krank sind, verletzt und enstellt, trotzdem vermögen zu lieben, Mitleid zu haben und Geduld zu haben mit einander und zu vergeben. Wir sind hier her gekommen, weil wir gehört haben, dass es hier Leben gibt und das hier das Leben wie aus einer Quelle sprudelt ...

Jetzt begeben wir uns erneut auf eine Reise zu einem neuen und noch wunderbarerem Ziel. Von den Evangelisten, von den Aposteln, von den Heiligen, von der gesamten Kirche, ja von einander hören wir, dass der Tag der Herrlichkeit Gottes näher gerückt ist, der Tag der Auferstehung, der Tag, der keine Nacht kennt. Wir alle sind nun bereit in das Boot zu steigen, dass uns an die Ufer der Ewigkeit tragen wird. In der Heiligen Schrift, bei den Kirchenvätern, in den Hymnen der Kirche wird die Kirche mit einem Boot verglichen, welches uns in die Ewigkeit bringt. Auf diesem Boot wird es eng sein, dort werden viele von uns sein. Einige werden den anderen Freude schenken durch ihre Unschuld und Reinheit, andere Unschuldige und Reine werden unser Herz zerreissen, wenn wir verstehen, was fremde Sünde, menschliche Grausamkeit und Unbesonnenheit ihnen angetan hat. Noch andere werden wie Geistesriesen vor uns stehen und uns auf dem Weg immer neuen Mut machen. Dies sind all die Heiligen, derer wir im Verlaufe der kommenden Wochen an den Sonntagen, wie auch an den anderen Tagen gedenken werden, Heilige, die uns zeigen, wie es zu leben gilt, die uns die Größe ihres Handelns aufzeigen werden und uns somit verdeutlichen, wie auch wir durch die Gnade Gottes groß werden können, uns öffnen können, was für eine Schönheit, was für eine Herrlichkeit dann auch in uns Gott zur Ehre erstrahlen kann, damit auch all die Menschen um uns ihr Heil erlangen, sowie auch zur ewigen Freude der Engel.   

Andere machen sich nun auf diesen Weg als Sünder, ohne durch das Bad der Beichte gegangen zu sein, immer noch besudelt und geschlagen von der Sünde. Mit welch einem Mitgefühl, welch einer Zärtlichkeit und Ehrfurcht sollten wir ihnen entgegentreten! Noch andere wiederum betreten das Boot schon gänzlich gealtert. Sie haben die Hoffnung auf die eigene Kräfte schon ganz aufgegeben und hoffen nur noch auf Hilfe von anderen, auf deren Fürsorge, deren Zärtlichkeit und Mitleid. Diese meint der Apostel Paulus, als er sprach: Ihr, die ihr stark seid, tragt die Schwächen der Hilflosen! Und an anderer Stelle: Einer trage des Anderen Last! So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!

Alle wir gehören zu der einen oder anderen Gruppe und wir brauchen uns einander auf diesem Weg. Nun, nach den Wochen der Buße, die uns dazu aufgerufen haben, in uns zu schauen, zu beichten, mit uns ins Gericht zu gehen, tief zu bereuen, liegen nun Wochen vor uns, in denen sich für uns die Macht und Stärke Gottes eröffnen wird, in denen die Kirche uns Wege zeigen wird, wie Gott Menschen zum Heil geführt hat, damit wir verstehen, wie Gott handelt, wie Seine Gnade einen Menschen verwandeln kann, um ihn eine neue Schöpfung werden zu lassen. Aber mit welchen Preis tut Gott dies alles für uns? Der Preis ist Sein Kreuz, das Grauen von Gethsemane, die Kreuzigung, die Stunden der Gottverlassenheit, der Abstieg in die Hölle. Von solchem Maße ist die Liebe Gottes, so sieht Sein Triumpf aus! ...

Lasst uns einander annehmen voller Liebe und Zärtlichkeit, lasst uns einander vergeben. Heute Abend werden wir den Osterkanon anstimmen, in dem es heisst: „Lasst uns einander lieben, lasst Brüder zu einander sagen und einander im Licht der Auferstehung vergeben." Denn nicht zu vergeben heisst im Dunklen bleiben. Wir aber doch streben zum Licht! Nicht zu vergeben heisst Sklave der Sünde zu bleiben. Wir aber doch alle suchen die Freiheit! Nicht zu vergeben heisst, bewußt den Samen und den Dorn des Todes im Leib behalten zu wollen. Wir aber doch sucjhenund wollen die Auferstehung! Wir beten um sie und streben zu ihr hin. ... Lasst uns einander alles vergeben, ja wirklich alles, womit wir einander das Leben schwer gemacht haben, wodurch wir einander beleidigt haben, einander erniedrigt, was wir in unserem Wahnsinn einander angetan haben, als unser Geist verdunkelt war, als unser Herz den Verstand verlor, als unser Wille wie trunken und ohne  Klarheit war, als unser Fleisch sich gegen uns aufbäumte. Alles, ja alles lasst einander vergeben und den Weg des Fastens beginnen.

Dieser Weg wird nicht leicht sein.  Auf diesem Weg werden wir abirren von unserem Herzenswunsch, von unserem eigenen Streben, wir werden abkommen von Gott und von dem besten, was wir in uns haben. Doch lasst uns der Worte von Serafim von Sarow gedenken, der gesagt hat, dass nur der Anfang und das Ende wirklich zählen. Der Beginn ist die Reue, die wir jetzt empfinden, ist unsere Offenheit zu einander, ist unsere Bereitschaft, wirklich für einander da zu sein, einander nicht fremd zu bleiben, sondern mit und für einander unsere Lasten zu tragen, einander zu lieben auch, wenn wir dafür leiden müssen, wenn es weh tut, wenn es für uns ein Kreuz ist. Das Ende aber ist die Osterfreude, die Begegnung mit dem Auferstandenen, der Eintritt in das Reich Gottes, in die Ewigkeit, in den Sieg und den Triumpf!

Lasst uns auf dem Weg dorthin einander unterstützen! Die, die Stärker sind, mögen den Schwachen Halt geben. Wir alle aber, wir alle ohne Ausnahme, sollten Geduld für einander haben, so wie auch die Menschen Israels einander geholfen haben, als sie von Ägypten ausgogen waren und in das Verheissene Land zogen, als sie die Alten trugen, die Kranken stützten, die Verwundeten stärkten, die Kinder auf die Arme nahmen und die Starken zur Hilfe riefen. So sollten auch wir durch die kommenden Wochen hindurch zur Auferstehung Christi schreiten. Mit welch einer Freude werden wir uns dann umarmen können, einander küssen, nicht mit dem falschen Kuss des Judas, sondern mit dem Kuss der Freude, dem Osterkuss und einander immer wieder zurufen: Christus ist auferstanden, Der Tod ist besiegt, Die Nacht ist vorrüber und der neue Tag ist angebrochen, der Ewige Tag für uns. Was für eine Freude wird dann sein? Lasst uns deshalb keine Mühe scheuen, lasst uns stark werden im Geiste, lasst uns ein Leben beginnen im Namen Jesu Christi und für einander. Möge die Kraft Gottes, die in unsere Schwachheit wirkt, das Unmögliche möglich machen und aus uns irdischen Geschöpfen Kinder des Himmelreiches werden lassen. Amen, so sei es, bei jeden von uns, für jeden von uns, für uns alle!

Jetzt möchte ich euch, die ihr hier anwesend seid, und über euch auch all die anderen, die heute nicht hier sind, wegen ihrer Schwachheit, aus Faulheit, aus Vergesslichkeit oder aufgrund ihres Alters um Vergebung bitten. Verzeiht mir! Mir, den der Herr dazu beauftragt hat, für euch Tag und Nacht durch Gebet, Liebe und mit all meiner Kraft der Seele und des Leibes zu sorgen. Verzeiht mir, dass ich dies so wenig tue. Verzeiht mir, dass ich meiner Berufung nicht wirklich nachkomme. Vergebt mir und gebt mir dadurch die Chance, dass auch Gott mir vergeben wird. Wenn mir die Kräfte ausreichen, wenn ich es vermag, wirklich Buße zu tun, wenn ich wieder rein und erneuert sein werde, dann werde ich euch mit neuer Hingabe versuchen zu dienen, mit der Hingabe, zu der mich der Herr berufen hat und die mir all zu oft wegen meiner Sündhaftigkeit, meiner Bosheit und Verantwortungslosigkeit nicht gelingen mag. Verzeiht mir und lasst uns einander vergeben und einander die Herzen öffnen! Lasst uns einander Brüder nennen und uns gemeinsam auf den Weg machen hin zur Auferstehung, hin zum Neuen Leben, wenn wir durch die Kraft und das Leben des Lebendigen Gottes selbst neu leben werden

Noch einmal Amen! So sei es, so sei es!

Amen         

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