4. Dezember 1981
Es gibt Kirchenfeste, deren Aussagekraft aus dem Ereignis hervorgeht, an das sie erinnern. Ihre Bedeutsamkeit besteht darin, dass sich an einem historisch konkreten Tage etwas für das Schicksal der Menschen entschieden verändert hat. Solche Kirchenfeste sind zu allererst die Feste der Weihnacht und der Auferstehung Christi. Bedeutsam an ihnen ist, dass an einem bestimmten historischen Tag Gott Mensch wurde, auf der Erde geboren wurde und dass der Herr genau an einem bestimmten historischen Tag auferstanden ist, nachdem Er für unser Heil am Kreuz gestorben war.
Es gibt aber auch Kirchenfeste, wie auch Ikonen, die uns mehr von einem inneren Ereignis berichten, auch wenn ihre historische Autenzität nicht ganz geklärt ist. Ein solches Fest ist die Einführung der Allheiligen Gottesmutter in den Tempel. Es ist historisch eher unwahrscheinlich, dass im alten Jerusalem dieses Ereignis wirklich so hätte geschehen können, wie es uns in den gottesdienstlichen Texten beschrieben wird. Die Texte erzählen uns jedoch etwas viel wichtigeres, etwas viel bedeutsameres über die Gottesmutter als nur ihre tatsächliche, physische Hineinführung in das Allerheiligste des Tempels, was sogar den Hohepriestern verwehrt war. An jenem Tag trat die Heilige Jungfrau, die schon sehr früh jene Reife erlangt hatte, die es einem Kind ermöglicht, ganz persönlich das geheimnisvolle Berührtwerden durch die göttliche Gnade zu erleben, sie in sich aufzunehmen und sich ihr zu öffnen, wirklich in das Allerheiligste ein. Nicht in den für alle verschlossenen Raum im Tempel, sondern in die Tiefe der Zwiesprache mit Gott, wofür der Tempel ja äußerlich historisch stand.
Mit welch einer Ehrfurcht sollten wir in den Gottesdienstbüchern jene Worte lesen, mit denen sich dort voller Zartheit und Tiefe Joachim und Anna - ihnen werden diese Worte dort zugeschrieben - an die Gottesmutter wenden: Geh, liebes Kind und sei Dem, Der dir alles gegeben hat, ganz Hingabe, dem duftenden Weihrauch gleich! Tritt ein in den Raum, zu dem es keine Tür gibt, lass dich einweihen in die Geheimnisse und bereite in dir das Gemach, das Gott selbst sich zu Seinem Ort erwählen wird! Wie wunderbar ist es sich vorzustellen, dass sich eine Mutter und ein Vater mit solchen Worten an ihr Kind wenden konnten: Geh ein in jene Tiefe, tritt ein in jene Geheimnisse, zu denen keine reale Tür führt und mach dich bereit, um Gott ein heiliges Opfer zu sein und duftender Weihrauch, ein Ort, in dem Gott wohnen wird.
So legen einige Kirchenväter, unter ihnen auch der Bischof Theofan, die Bedeutung jenes Eintritts der Gottesmutter in den Tempel, in das Allerheiligste aus. Von aller Sünde unberührt, völlig unbefleckt, jedoch bereits fähig, um sich mit reinem Herzen und unversehrtem Leib, um sich mit lichtem Geist dem Heiligen, der Herrlichkeit und der Schönheit Gottes zu öffnen, wird dieses dreijährige Mädchen in die Tiefen des Gebets und der Gottesschau eingeführt.
An einer anderen Stelle des gleichen Gottesdienstes lesen wir, wie ihr leise der Erzengel Gabriel zuflüstert, dass sie sich Gott ganz öffen solle, um somit das Gemach zu bereiten, dass der kommende Heiland der Menschen durch sie geboren werden könne.
Von all dem erzählt uns dieses Fest. Davon, wie die kleine Maria bereits mit ihren ersten Schritten in Begleitung iher Eltern und ermutigt durch den Engel in jene Tiefen des Gebets, des Schweigens, der Güte, der Liebe, der heiligen Schau und der Reinheit eintritt, wofür das das Allerheiligste ja eigentlich steht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir diese Fest als den Beginn unseres Heils begehen. Als erste der gesamten Schöpfung tritt die Heilige Jungfrau in diese unzugänglichen und undurchdringbaren Tiefen ein. Sie tritt ein in die Zwiesprache mit Gott, die immer intensiver werden wird, ohne im gesamten Verlaufe ihres Lebens befleckt, verdunkelt oder beschmutzt zu werden, bis zu dem Moment, als sie - wie es ein westlicher Schriftsteller schreibt - als Antwort auf die Berufung durch Gott Seinen Namen mit all ihren Gedanken, all ihrem Herzen, all ihrem Willen und mit ihrem gesamten Leib aussprechen kann, um so gemeinsam mit dem Heiligen Geist das Mensch geworden Wort Gottes zu gebähren.
Ja, an diesem Festtag vollzieht sich für uns wirklich dieses wunderbare Ereignis, jener Beginn dieses besonderen Heranwachsens der Gottesmutter. Doch zugleich werden auch wir darauf hingewiesen, dass auch wir dorthin eingeladen sind, wohin der Herr uns ruft: in das Allerheiligste! Ja, wir sind nicht mehr unbefleckt, unser Geist ist verdunkelt und auch ein reines Herz können wir nicht aufweisen. Unser Leben ist voller Laster und unserem Gott eigentlich unwürdig. Doch wir alle können Buße tun. Sie reinigt unsere Gedanken, unseren Leib und unser Herz. Sie lenkt unseren Willen wieder dahin, damit wir unser ganzes Leben auf die rechte Bahn zurückbringen, dass auch wir in das Allerheiligste eintreten können.
Verbirgt sich deshalb in diesem Fest, in den Worten, die ich am Anfang verlesen habe und die Joachim und Anna in den Mund gelegt wurden, nicht auch ein Aufruf an jede Mutter und an jeden Vater, dass auch sie ihrem Kind schon von klein auf an, von dem Moment an, an dem das Kind beginnt, wenn auch noch ohne es mit dem Verstand zu begreifen, mit seinem Herzen die Gnade zu fühlen, auf sie voller Feingefühl zu reagieren und sie sogar aufzunehmen, sagen mögen: Tritt ein voller Ehrfurcht in diese besondere Welt, in die keine Tür, weder eine Kirchentür noch eine sich in Gedanken gedachte oder noch irgendeine andere Tür führt, als nur andächtiges Schweigen und ehrfürchtiges Aufschauen zu Gott. Tritt ein in das Allerheiligste, um zu einem würdigen Christen heranzuwachsen, um - der Gottesmutter gleich - ein Gemach zu werden, wo der Heilige Geist und ebenso der Herr selbst in Seinen Sakramenten einzughalten kann, um so ein Kind Gottes zu werden, ein Kind unseres Himmlischen Vaters!
Amen