28. November 1976
Jahr für Jahr werden in der Kirche an den Sonntagen immer die gleichen Erzählungen aus dem Evangelium verlesen. Wie oft kann man die Leute fragen hören: Warum liest man uns schon wieder diese eindeutige und allen bekannte Geschichte vor? Wir kennen sie doch nur allzu gut.
Offensichtlich jedoch kennen wir sie nicht. Die eine oder andere Erzählung wiederzuerkennen, sie sogar ganz nacherzählen zu können, heisst noch lange nicht, sie auch zu kennen. Wir kennen die Heilige Schrift, den einen oder anderen kleinen Abschnitt nur dann, wenn er für uns ein Teil unseres Lebens geworden ist, wenn wir begonnen haben, so zu leben, wie es dort beschrieben wird. Und wer von uns könnte behaupten, dass er, nachdem er zum x-ten mal die Geschichte vom Samariter gehört hat, auch angefangen irgendetwas in diese Richtung zu tun?
Christus zeichnet vor uns das Bild eines völlig anderen Herangehens an das Leben und an die Welt. Ein Schriftgelehrter, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein rechtschaffendes Leben führte, stellte Ihm die Frage: Wer ist mein Nächster, um wen soll ich mich kümmern? Der Schriftgelehrte denkt an sich, er versteht sich dabei als Mittelpunkt des Lebens und überlegt, während er um sich schaut: Wer wird mir am Nächsten sein? Wen mag ich am liebsten? Wen sollte ich umsorgen?
Christus antwortet ihm, wie Er es oft tut, indem Er das ganze Weltbild auf den Kopf stellt. Dein Nächster ist nicht der, der dir nahe steht, nicht der, der dir lieb ist, nicht der, den du selbst, wenn du um dich schaust, wahrnimmst und dem du selbst näherkommen willst, sondern der, der deine Hilfe braucht. Und das kann jeder sein, einer der dir gerade über den Weg läuft, den du gerade zufällig getroffen hast, ein Bekannter oder ein Unbekannter ...
Christus weist uns als ein Beispiel auf den gütigen Samariter, um uns einfach zu zeigen, dass alle die rechrtschaffenden und tugendhaften Leute an menschlicher Not vorübergegangen sind. Der Mensch jedoch, der sich selbst als Sünder sah, der sich nicht für den Nabel der Welt hielt, weil er wusste, dass er dazu keinerlei Recht hatte, vermochte die Not des anderen zu erblicken, genauer hinzuschauen und Mitleid zu haben.
Heute steht nun wieder vor uns dieses Gleichnis, wieder ist die Welt vor uns auf den Kopf gestellt und wieder steht vor uns die Frage: Ja, wir haben das Gleichnis gelesen, ja, wir haben es gehört und was nun weiter? Wer von uns vermag es um sich zu schauen und sich dabei nicht als der Nabel der Welt zu sehen, sondern den Menschen in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu stellen, der jetzt Hilfe braucht, entweder materielle oder seelische, der jetzt einen Menschen an seiner Seite braucht? Und dieser Mensch bin ich, ist jeder von uns.
Amen