6. November 1977
Berichte von Besessenen, die es im Evangelium zu lesen gibt, scheinen den meisten von uns so weit weg zu sein von unserem täglichen, wirklichen Leben. Dabei könnten sie uns so nahe sein, wir könnten so viel Glaubenskraft und Hoffnung aus ihnen schöpfen, wenn wir sie hören.
Der Mensch, von dem uns heute berichtet wird, war besessen. Sowohl sein Verstand, als auch sein Herz, ja sogar sein ganzer Körper war in der Hand einer zerstörerischen Kraft. Keinerlei menschliche Kraft, nicht einmal irgendeine List vermochten ihn zu bändigen. Er zerriss alle Ketten, er befreite sich von allen Beschränkungen, die man ihm auferlegt hatte und floh in die Wüste, weit weit weg von allen, dorthin, wo nichts menschliches mehr existiert, wo die Sonne alles verbrennt, die Hitze glüht und lebte dort in den Gräbern, wo nichts menschliches mehr ist, nur noch tote Knochen und der Geist des Todes. ...
Sind nicht auch wir ebenso besessen wie jener? Sind nicht auch wir angekettet, angebunden und wie zu einer Starre verdammt durch unseren ständigen dunklen, schwarzen Gedanken und Bewegungen, die unsere Seele und unseren Körper durchziehen? Kann etwa einer von sich behaupten, dass er nie vor Wut oder Zorn gepackt wird, dass er nie gereizt und erbost reagiert, dass sein Herz, sein Verstand und sein Körper nie ergriffen werden von einer dunklen Macht, von Erbitterung und Hass? Wie viele Anstrengungen unternehmen immer wieder die, die um uns sind, um uns zur Vernunft zu bringen, um uns zu beruhigen, uns friedlich zu stimmen und manchmal auch zu trösten, wenn wir von irgendetwas dunklem geritten werden. Doch wir vereiteln all diese Versuche und ziehen uns von allen zurück, sogar von denen, die uns am nächsten sind, und sinken schrittweise immer tiefer dorthin hinab, wo nichts mehr bleibt vom Menschen, wo nur noch Tod und Zerstörung hausen. ...
In der heutigen Evangeliumsperikope sehen wir, wie der Besessene, dem wir oft so ähneln, sich direkt von Angesicht zu Angesicht vor Christus stellte, nachdem Dieser gekommen war und Ihm, in erster Linie dem Menschen, dem einzigsten wahren Menschen, die Frage stellte: Was haben wir mit Dir gemeinsam? Warum bist Du zu mir gekommen? Warum willst Du mich quälen? Christus gebot darauf der grausamen, zerstörerischen Kraft aus dem Menschen auszufahren. Der Verstand des Menschen wurde wieder licht, sein Herz fand Frieden, er wurde wieder Mensch und lauschte vor Christus sitzend Dessen Worte.
Auch wir können alle so vor Christus treten. Wir können uns Ihm im Gebet nähern, wir können in den Sakramenten, in diesen starken und unbesiegbaren Kräften Gottes, zu Ihm kommen und frei werden. Frei werden von all den Kräften, die uns innerlich zerstören. Mögen wir nur dann immer bei Christus bleiben und durch Ihn unser Heil finden und uns nicht wieder abkehren zu dem, was uns vergiftet und zerstört. Mögen wir doch statt dessen in die Welt hinaus gehen und allen Menschen bezeugen, was Christus für uns getan hat.
Deshalb lasst uns diese Geschichte nicht so lesen, als ob sie keinerlei Bezug zu uns hätte. Sie betrifft uns alle auf sehr unmittelbare Weise. Lasst uns in uns schauen: Was wirkt in uns, was verdunkelt unseren Geist, was überschattet unser Herz, was lenkt unseren Willen hin zum Bösen, was macht unsere Worte verdorben, beissend, grausam und tötend, was lässt unser Tun zerstörerisch sein? Lasst uns ebenso wie der Besessene vor Christus treten, in der Beichte, zur Kommunion, bei der Krankensalbung, im Gebet, beim Gedenken an unsere Liebsten und Freunde mit der Bitte, dass auch sie unser gedenken. So werden auch wir Heilung erfahren.
Amen