5.8.1976
Ich möchte euch auf zwei Dinge aufmerksam machen. Sind wir uns jedes Mal, wenn wir das Evangelium lesen – sei es nun still für uns selbst oder aber laut in der Kirche – bewusst, dass wir manchmal die gleichen Worte gebrauchen, die Christus einst während Seines Lebens auf der Erde gesprochen hat? Natürlich nicht in der Sprache, in der Er geredet hat und auch nicht in dem Ton. Trotzdem sind es die gleiche Worte, die Gott Selbst einst auf der Erde mit einer menschlichen Stimme und in einer Sprache der Menschen ausgesprochen hat. Diese Worte heiligen die Rede der Menschen. Diese Worte hat Christus gebraucht. Sie erklangen mit einer menschlichen Stimme, doch sie waren Worte des Lebendigen Gottes, der Mensch geworden war. Der gesamte Kosmos hat sie gehört. Es waren keine lauten Worte. Sie waren vielmehr still und tief. Doch sie erklangen in der ganzen Welt.
Wenn wir das Evangelium laut lesen, dann sollten wir uns bewusst machen, dass die gesamte Schöpfung voller Ehrfurcht lauscht und ergriffen wird von heiligem Erzittern, dass sie voll tiefer Rührung davon erfasst wird, dass der unsichtbare Gott Selbst in einer Sprache unserer geschaffenen Welt spricht. Wie traurig ist es, wenn wir uns klar machen, dass die einzigen, die diese Worte nicht begreifen, wir Menschen sind: wir Menschen, für die diese Worte einst gesagt worden sind, in deren Sprache sie formuliert wurden, wir Menschen, um deren willen Christus Mensch geworden ist.
Wie ehrfürchtig sollten wir deshalb auf sie hören und zuhören, auch wenn wir ihre ganze Tiefe nicht erfassen können, auch wenn wir ihr Gewicht nicht abschätzen können und ihrer manchmal erschreckenden Botschaft nichts entgegnen können. Doch wie ehrfürchtig sollten wir sie hören, wohl wissend, dass es die Worte von Gott selbst sind, die Er in einer menschlichen Sprache gesprochen hat, damit sie zu uns gelangen und in der ganzen Welt erklingen.
Der Heilige Johannes Chrysostomos hat einmal gesagt: Wenn wir eine Seite des Evangeliums lesen wollen, sollten wir vorerst beten, damit der Herr unseren Verstand und unser Herz reinige und unseren Willen lenke. Ebenso sollten wir uns die Hände waschen, wenn wir dieses heilige Buch berühren und ihm mit unserem gesamten Wesen lauschen wollen. Der Heilige Serafim hat gesagt, dass man das Evangelium auf Knien lesen sollte, weil Gott Selbst in ihm spricht, denn, wenn der Lebendige Gott ganz real und hörbar mit uns sprechen würde, würden wir auch nicht stehen bleiben. Wir würden vielmehr vor Ihm auf die Knie fallen. Wir würden unsere Augen schließen und aufhören, an irgendwas zu denken oder etwas zu fühlen. Hören wir so etwa zu, wenn für uns das Evangelium verlesen wird?
Heute nun haben wir vom Sturm auf dem See gelesen. Es wird uns nicht nur einfach erzählt, dass damals, als Christus auf der Erde lebte, ein Sturm losbrach. Es geht vielmehr um jeden beliebigen Sturm, über jedes beliebige Unwetter, sei es in der Geschichte oder in der Familie. Es erzählt uns von all den Stürmen, die so viel Zerstörung anrichten, die wir fürchten. Ebenso aber auch von dem Sturm, der oft in unseren Herzen wütet, in unseren Köpfen peitscht, wenn harte Worte fallen, die uns manchmal in gefährliche Strudel hinabreißen.
Wenn ein solcher Sturm losbricht, dann sollten wir uns nicht fürchten, sondern wissen, dass in seiner Mitte, dort, wo er am grausamsten wütet, wo sich alle Kräfte zu sammeln scheinen, um alles zu zerstören, Christus steht, an Dem all diese Kräfte, wie an einem Felsen zerschellen.
Wir sehen Christus nicht im Sturm, weil wir nicht aufschauen. Wir hören nicht Seine Stimme im Tosen des Windes und im Schäumen der Wellen, weil wir nicht hinhören. Auch wenn wir gewahr werden, dass Er dort irgendwo im Sturm steht, dann sind wir nicht wie Petrus, der sagte: Herr, lass mich wenigstens ein wenig von meiner Sicherheit, von meinem Geschütztsein, von meiner Ruhe, von all dem, was mir gegeben ist, aufgeben! Lass mich heraus in den Sturm treten und ihn durchschreiten, um an Deiner Seite zu sein! …
Wenn wir dazu aber bereit wären, dann könnten auch wir über die tosenden Wellen laufen und den Winden, die gegen uns ankämpfen, standhalten. Wenn wir uns dann auf halbem Wege plötzlich zu fürchten beginnen, weil wir den Glauben verlieren, weil wir Christus nicht mehr sehen, weil wir uns selbst nichts mehr zutrauen, dann können wir immer - wie es auch Petrus in der heutigen Lesung aus dem Evangelium getan hat - mit all unserer Angst und aus dem Gefühl des Verlorenseins heraus mit ganzer Seele rufen: Herr! Hilf mir! Und Christus nimmt uns im Sturm bei der Hand und hilft uns zunächst in ein kleines Boot, welches uns den ersten Halt gibt, uns jedoch dann ans sichere Ufer bringt.
Christus ist früher und heute und auf immer der Selbe. Was uns von Ihm berichtet wird, wie Er auf der Erde gelebt hat, zeigt uns wie wir mit Ihm leben können. Denn Er ist mit uns bis zum Ende der Zeiten.
Amen