1968
Ich möchte euch zu allererst nicht nur selbst begrüßen, sondern auch im Namen derer, die mich hierher begleitet haben. Das sind Archimandrit Peter, der Vorsteher der französischen orthodoxen Gemeinde in Paris und Vater Sergius, Kirchenvorsteher einer unserer Gemeinden in England, der gleichzeitig auch Dozent an einer englischen Universität ist. Wir alle, orthodoxe Christen, begrüßen den hier neben uns stehenden Priester der anglikanischen Kirche, der gemeinsam mit seinem Bischof von seinem Volk und von seiner Kirche dem Patriarchen unserer Kirche und unserer Kirche insgesamt einen brüderliche Gruß in christlicher Liebe übermittelt.
Ich möchte auch einige Worte über den Heiligen sagen, dem eure Kirche geweiht ist. Nach dem Zeugnis des Herrn war niemand, der auf der Erde geboren wurde, größer als der heilige Johannes der Täufer oder Vorläufer, wie man ihn auch nennt. Wenn man sich in diese Aussage des Evangelium hineindenkt über ihn nachdenkt, wird man von etwas wirklich Besonderem ergriffen. Wir sehen in ihm das Bild eines Menschen, der es vermocht hat, so absolut und uneingeschränkt seinem Gott zu dienen und auf diese Weise seiner irdischen Berufung vollens gerecht zu werden. So kann er für jeden von uns zum Vorbild werden. Jeder von uns spielt in einem bestimmten Sinne für die Menschen, die ihn umgeben, die Rolle des Johannes. Wir alle sind dazu berufen, Vorläufer des Herrn zu sein. Wir sind es nämlich, die der Herr vorschickt, damit wir den Leuten Sein Wort bringen und ihnen Seine Art zu leben zeigen, damit sie so vorbereitet werden, Christus zu begreifen, ja Christus in sich aufzunehmen. Wenn wir mit unserem Leben jedoch unserem Zeugnis von Christus widersprechen, wenn die Leute, wenn sie uns sehen, aufhören an uns und an Christus und Seine Worte zu glauben, dann lasten wir uns damit etwas Furchbares auf, wofür wir die Verantwortung tragen. Dann gerät nicht nur für uns selbst unser Leben zum Gericht und zur Verdammnis, sondern wir führen auch die anderen nicht dorthin, wohin wir sie eigentlich führen sollten, nämlich zur Freude. Zu der Freude, die uns der Herr als Zeichen hinterlassen hat und die uns niemand außer der Herr zu geben vermag.
Rufen wir uns einiges von dem in Erinnerung, wie Christus oder das Evangelium Johannes den Täufer beschreiben. Zuerst wird er als die Stimme der Wüste bezeichnet. Die Wüste ist nicht nur ein Raum, in dem keine Menschen leben. Dieser Raum ist leer. Wie oft ist auch das menschliche Herz, ja das Leben eines Menschen leer. Es fehlt nicht nur an dem, was das Leben mit der Ewigkeit verbindet, es hat oft überhaupt keinen Inhalt, wofür es sich loht zu leben. In diesem Sinne sind wir alle von einer menschlichen Wüste umgeben. In dieser Wüste sind wir berufen, so wie es auch der Täufer war, Zeugnis abzulegen. Das Zeugnis des Johannes begann nicht mit Worten. Viel früher, bevor er zu den Leuten ging, um zu reden und von ihnen machtvoll zu fordern, dass sie ihrer Berufung, Mensch zu sein, gerecht werden sollten, hatte er sich selbst in die nackte, heiße Wüste zurückgezogen und war allein mit sich geblieben und musste so unter den Blicken Gottes vor sich selber stehen lernen.
Auch wir sind manchmal gezwungen in einer solchen Einsamkeit auszuharren. Es kommt vor, dass uns nahe Menschen verlassen. Dann wird alles um uns herum leer. So auch, wenn wir krank werden. Selbst wenn Leute uns versorgen, fühlen wir uns doch oft einsam. Denn sehr oft müssen wir vor dem Leben und dem Tod als Ganzes stehen lernen, nicht nur in der Zeit sondern auch in der Ewigkeit. Es kommt vor, dass wir uns selbst zurückziehen, um zu uns zu kommen. Wir alle wissen, wie schwer es ist, mit sich allein zu bleiben, wenn man daran nicht gewöhnt ist. Wir bekommen Angst, weil sich dann unsere innere Leere vor uns auftut. In diese Leere sind wir berufen zu gehen. Dort wird es einsam sein und leer, dort wird es schwer sein zu leben. Doch nur, wenn wir es schaffen, in dieser Leere zu leben, allein mit Gott, können wir auch zu den Menschen zurückkehren, ohne Gott zu verlieren. Dann, wenn wir uns selbst besiegt haben, können wir auch alles andere besiegen.
Johannes der Täufer verbrachte über dreißig Jahre einsam in der Wüste. Er kämpfte mit sich und mit seinem Leben und trat danach zu den Menschen, um zu ihnen zu predigen. Gott bezeugt selbst, dass er der Größte ist und nicht nur das. Das Evangelium nennt ihn nicht einen Propheten, sondern die Stimme. Er ist in einem solchen Maße eins geworden mit dem Willen Gottes und so stark zusammengewachsen mit dem lebenspendenden Wort, dass er berufen war, zum Heil der Menschen diesen Willen zu verkünden, damit die Menschen aufwachen und auch in ihnen das Leben erstrahlen möge und Freude herrsche unter ihnen. Johannes ist dazu nur die Stimme. Er ist schon kein Mensch mehr, der zu den anderen sagt, dass Gott es ist, Der ihn dazu berufen hat. Ein Asket vom Athos, der vor gar nicht langer Zeit gestorben ist – gerade einmal vor 30 Jahren – hat gesagt: „Heilige sprechen nicht von sich. Sie reden von Gott und nur von Ihm“.
Johannes hat alles Irdische zurückgelassen, um ganz Gott zu gehören. Der Herr hat ihn zur Welt zurückkehren lassen. Er hat ihn nicht in der weiten Wüste allein gelassen. Nachdem er mit Ihm eins geworden war, hat Er ihn zu den Menschen gesandt, damit auch die Menschen von einem solchen Leben erführen, welches Johannes begriffen hatte. So stellt sich vor jedem von uns die Frage: Habe ich in mir solches Leben, dass ich auch andere Menschen damit entzünden kann? Wo ist dieses Leben in mir? Wenn Leute mich treffen, erwärmt sich dann etwas in ihnen? Wenn andere mich sprechen hören, regt sich dann etwas in ihren Herzen? – so wie es das Evangelium von den beiden Jüngern berichtet, mit denen der Auferstandene auf dem Weg nach Emmaus sprach. Wenn die Menschen sehen, wie wir leben, sprechen sie dann von uns in einer solchen Begeisterung, wie sie es von den frühen Christen taten? Wie sie einander lieben! Sind die Leute etwa angetan von dem, was sie hören und sehen bei uns, weil sie etwas bei uns finden, was es bei niemandem sonst gibt? Wenn dies nicht so ist, dann sind wir bisher nicht den Weg des Vorläufers gegangen, dann sind wir nicht bereit, den Menschen Christus nahe zu bringen. Wir vermögen es nicht einmal, Ihm den Weg bereiten, damit Er Selbst den Weg zu den Menschen findet. Doch wir sind gerade dazu berufen. Wir sollen die Menschen für die Freude vorbereiten, auf die Freude einer Begegnung mit Gott, eine Freude, die nie endet und die uns niemand und nichts nehmen kann. Warum können wir dies nicht? Weil wir nach unseren Vorstellungen und für uns selbst leben wollen. Wir wollen uns nicht aufgeben für Gott.
Was sagt das Evangelium von Johannes dem Täufer? Auf die Frage der Leute, wer er denn selbst sei, antwortet der Täufer: Mir gebührt es, kleiner zu werden und mich ganz aufzugeben, damit Er in ganzer Größe erstrahlen kann. Ich bin nur der Vorläufer. Ich soll nur die Tore öffnen und zur Seite treten, damit die Menschen nicht weiter auf mich achten, wenn sie dann plötzlich Christus begegnen werden und alles vergessen vor Freude!
Von sich abzusehen, um dem Herrn den Weg zu bereiten … wer kann dies von uns? Wer von uns möchte nicht, nachdem er der Seele eines anderen durch ein gutes Wort neues Leben geschenkt hat, in dieser gemeinsamen Freude verbleiben? Wer von uns, der ein lebensspendendes Wort gesagt hat, - sei es wenn es der Herr so fügt, manchmal sogar zufällig - möchte nicht, dass man sich an ihn erinnert, dass man ihn nie vergisst, und die Tatsache, dass gerade er dieses Wort gesprochen hat?
Der Täufer sagt von sich weiterhin: - Ich bin der Freund des Bräutigams. Was bedeutet dies? In der Alten Zeit, sowohl bei den Juden als auch unter den Heiden, hatte der Bräutigam immer einen Freund, der alles für die Hochzeit organisierte und der nach der Trauung die Braut und den Bräutigam in das Brautgemach führte. Er stand vor der Tür und bewachte sie quasi, dass niemand ihre tiefe und geheimnisvolle Begegnung in den Armen wunderbarer gesegneter Liebe störe. Er war der Freund, weil er es vermochte vor der Tür, das heißt draußen, zu bleiben. Für ihn war es eine vollkommene Freude, dass die Freude des Bräutigams und der Braut nun ihre Vollendung gefunden hatte. Die beiden blieben zu zweit, er bewachte nur ihre Begegnung. Wer von uns vermag es, so mit fremder Freude umzugehen? Alles zu tun, dass es zu dieser Freude kommt, dass sie im Licht der Ewigkeit leuchtet und gleichzeitig zur Seite zu treten, sie nur zu behüten, zu bewachen und dabei vergessen zu werden vor der verschlossenen Tür?
Und noch ein Bild, ein letztes Bild. Sein immer kleiner Werden, sein eigenes Zurückstecken gingen fast bis ans Letzte. Er wurde gefangen genommen und in einen Kerker geworfen, weil er aufrichtig für die Wahrheit eingetreten war. Christus blieb frei. Dieser predigte und Ihm folgten nun die Jünger des Johannes. Er war umgeben von Seinen Jüngern, Er war herangewachsen zur vollen Größe seiner irdischen Berufung. Johannes weiß, dass ihn der Tod erwartet, dass er aus dem Verließ nicht wieder herauskommen wird und plötzlich ergreifen ihn Zweifel. Er, der an den Ufern des Jordans vor allen bezeugt hatte, WER der kommende Messias ist, schickt zwei seiner Jünger zu Christus, damit diese Ihn fragen: Bist Du es, auf Den wir gewartet haben, oder ist es ein anderer, der noch kommen soll? … Mit anderen Worten: Bist du wirklich Der, für den ich mein Zeugnis abgelegt habe, oder habe ich mich geirrt? … Wenn er sich geirrt haben sollte, dann hat er folglich seine Jugendjahre sinnlos in der Wüste aufgegeben, dann ist er vergebens zu den Menschen gegangen, dann sitzt er nun ohne Grund in Gefängnis und sinnlos ist auch sein Tod. Dann war ALLES umsonst. Sinnlos auch das Zeugnis, welches er für Christus abgelegt hatte, dann ist er getäuscht von Gott selbst. Die stärkste Seele, die es je auf der Erde gegeben hatte, ist ins Schwanken geraten. Und Christus antwortet ihm NICHT. Er befreit ihn nicht davon, weiterhin für seinen Glauben und seine Treue zu Gott ringen zu müssen. Seinen Jüngern antwortet Er: Erzählt Johannes, was ihr seht: Blinde sehen, Lahme gehen, Arme jubeln, selig der, der keinen Anstoß an Mir nimmt … Dies sind Worte, die Jahrhunderte zuvor der Prophet Jesaja aufgeschrieben hatte. Mit diesen Worten kehren sie zu Johannes zurück. Diesem bleibt nichts weiter übrig, als in sich zu gehen und sich selbst die Frage zu stellen: Als er in der Wüste war, allein vor dem Angesicht Gottes, war dies richtig oder ein innerer Betrug? Als er die Wüste verlassen hatte, um zu predigen und die Leute aufgewühlt hatte, diese innerlich erneuert und in ein neues Leben geführt hatte, zu einem geistigen Frühling – war dies alles richtig oder nicht? Als er Christus begegnet war und in Ihm den kommenden Messias erkannt hatte - war dies die Wahrheit oder ein Irrtum? Johannes ist im Glauben gestorben und hatte seine Treue bis an sein Ende bewahrt.
So oft gerät auch unsere Seele ins Wanken, wenn wir, nachdem wir alles vollbracht haben, was wir tun sollten, ein gutes und richtiges Wort gesagt haben, wenn wir alles getan haben, was wir konnten, damit ein anderer Mensch zu neuer Freude erwacht und in der Seele aufersteht und ein Leben im ewigen Frühling beginnt, plötzlich von Zweifeln befallen werden. … Die Seele ist müde geworden, das Leben glimmt nur noch und unser Haupt senkt sich zu Boden. Hat alles denn etwas gebracht? Ich sehe nicht die Früchte meiner Mühen, ich weiß nicht, was kommen wird. Soviel Glauben und Liebe sind im Nichts verschwunden. Hatte alles wirklich seinen Sinn? Der Herr antwortet uns darauf nicht damit, dass Er uns unsere Erfolge vor Augen führt. Er sagt zu uns viel mehr: Es möge dir genügen, dass alles zu seiner Zeit wahr und richtig und gut war. Es genügt, dass du getan hast, was zu tun war. Und das ist alles.
Vor jedem vor uns steht die Gestalt des Täufers. Wir alle sind quasi berufen für einander die Rolle des Vorläufers auszufüllen, um einander Worte zu sagen, die von solcher Reinheit sind und frei von allem unseren, von unserer Selbstliebe, unserer Ehrsucht und allem, was jedes unserer Worte klein werden lässt, leer, nichtig und faul. Sind wir dazu bereit und vermögen wir es gleichzeitig immer kleiner zu werden, nur von dem einen Gedanken getrieben, dass im Herzen unseres Nächsten das Leben gedeihen möge, damit dieser so zur Braut des ewigen Lebens werde?
Wenn all dies vollbracht ist, sind wir dann bereit, mit Freude zu sagen: Ja, möge sich auch das Letzte vollenden, mögen sie mich auch vergessen, mögen der Bräutigam und die Braut einander begegnen und ich aber sterben müssen, in Vergessenheit geraten und im Nichts verschwinden. Sind wir dazu bereit? Wenn nicht – ach wie schwach ist dann unsere Liebe sogar zu denen, die wir lieben! Und wie erst zu all denen, die uns oft so fremd sind und gleichgültig!
Lasst uns daher immer öfter dieses großartige, dabei aber ganz menschliche Antlitz des Täufers betrachten und lasst uns dabei lernen, was es heißt, als wahrhaftiger und vollkommener Mensch zu leben. Lasst uns wenigstens im Kleinen versuchen, so zu leben, mit all unserer Kraft auch wenn es nicht so viel ist. Doch ohne sich zu schonen, bis zum letzten Tropfen unserer Lebenskraft.
Amen