Мы переживаем «золотой век» православной мысли…
Протоиерей Всеволод Чаплин, заместитель председателя и пресс-секретарь Отдела внешних церковных связей Московского Патриархата, рассказал в интервью с Византистским клубом «Катехон» о своих взглядах на отношение Церкви и государства в сегодняшней России, которые протекают между симфонией и радикальным разделением. (Статья на немецком языке)
Статья

Erzpriester Wsewolod Chaplin

(geb. 1968) – stellvertretender Vorsitzender und Pressesprecher des kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Mitglied des Expertenrats am Komitee der Staatsduma für öffentliche Vereinigungen und religiöse Organisationen, Mitglied der Arbeitsgruppe der OSZE für Fragen der Menschenrechte und Religionsfreiheit.

S.K.: Vater Wsewolod, im Zusammenhang mit dem beispiellosen Wachstum des kulturellen Einflusses der Russisch-orthodoxen Kirche in unserem Land wird von manchen Atheisten angemahnt, dass wir all unsere Probleme allein lösen müssen, weil die Kirche bei uns vom Staat getrennt ist. Das Wiedererstehen der Orthodoxie habe deswegen mit dem Wiedererstehen Russlands als Staatswesen nichts gemein. Was würden Sie auf diesen Vorwurf antworten?

Vater Wsewolod: Ich denke, dass es bestimmte gesamtnationale Werte gibt, die die Gesellschaft mithilfe des Staates stärken und unterstützen muss. Man sollte von einer Auffassung der Kirche als einer rein religiösen Körperschaft abstandnehmen. Wir sprechen von Kirche beständig als von der Geistlichkeit und den Laien, die von kirchlichen Einrichtungen ein Gehalt empfangen; aber die Kirche sind alle getauften orthodoxen Christen: Politiker, Sportler, Lehrer, Arbeiter, Ackerbauern, Diplomaten. Sehr unterschiedliche Leute, die ihren Dienst an der Kirche nicht nur in der Gemeinde versehen, sondern auch dort, wo sie arbeiten und leben. Wir sprechen immerzu von der ideologischen Neutralität des Staates. Das spiegelt sich in unserer Verfassung wider – in einer Formulierung, die Gott sei Dank behutsam ist: Keine Ideologie oder Religion hat das Recht, sich als verpflichtende Staatsideologie oder Staatsreligion auszugeben. Aber einige Gesetzgeber, insbesondere im Bereich des internationalen Rechts, bestehen heute darauf, die Formulierung von der ideologischen Neutralität des Staates einzuführen, worunter auch die religiöse Neutralität fällt. Auf die eine oder andere Weise entsteht so ein neues System der Formulierung internationalen Rechts, das bei uns in Russland kaum jemand kennt – ich selbst habe das selbst erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt. Das System besteht darin, dass das internationale Recht, das auf der Grundlage von Staatsverträgen ausgearbeitet wurde, heute nach dem amerikanischen Prinzip des Fallrechts formuliert wird. So werden Gerichtsentscheidungen, darunter auch ihr Motivationsteil, in den Augen vieler Vertreter internationaler Organisationen – vor allem bei den Amerikanern und Engländern, zu einem Teil des Gesamtkomplexes des internationalen Rechts. Was die Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angeht, so werden sie von Richtern gefällt, die von nationalen Regierungen gestellt worden sind. Es handelt sich also um Personen, die nicht gewählt worden und dem Volk keine Rechenschaft schuldig sind. Der Motivationsteil wird von Apparat ausgearbeitet, d.h. irgendein Mädchen oder emeritierter Professor, die in diesem Apparat sitzen, legen Normen für das internationale Recht fest, die immer stärker ideologisiert sind. Genauergesagt wird eine Art antiideologische Ideologie durchgesetzt. Gleichzeitig widerlegt das Leben diese ideologische Konstruktion. Der Staat von heute ist eben nicht immer weniger ideologisch orientiert. Wir kennen das Amerika Bushs, wir wissen, dass der Staat dort immer häufiger in religiöse Auseinandersetzungen verwickelt ist. Und so wird die ideologische Neutralität des Staates zur Fassade, hinter der durchaus ideologisierte Entscheidungen getroffen werden. Mag sein, dass die Zeit kommt, ehrlich zu bekennen, dass die ideologische Neutralität des Staates ein Mythos ist, und von diesem Mythos muss man sich lossagen, um vor seinem eigenen Volk aufrichtig zu sein. In der heutigen Welt, in der Konflikte hauptsächlich Konflikte von Ideen und von politischen Systemen sind, die sich auf diese Ideen gründen sind, versteht man Neutralität als Unterdrückung einer der Ideologien durch das System des internationalen Rechts. Und dass niemand sage, die Ideologie des Transatlantismus sei ein Synonym für Neutralität, sie ist vielmehr eine sehr amorphe und dabei sehr zielbewusst für ihre Prinzipien kämpfende Ideologie. Ihre Vertreter sollten sich ehrlich eingestehen, dass sie aus den möglichen Alternativen eine gewählt haben. Der Staat mischt sich ein und wird sich weiter einmischen in die Sphäre der Ideen. Und die Gesellschaft muss sich dafür einsetzen, diese Einmischung zu beeinflussen.

S.K.: Es ist völlig offensichtlich, dass der Staat nicht ohne ideologische Grundeinstellung sein kann, denn er ist immer ein konkretes Territorium, ein konkretes Volk, eine konkrete Sprache, ein konkreter sozialer Raum, und letztendlich eine konkrete religiös-kulturelle Tradition. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: Darf man nicht erwarten, dass die Orthodoxie noch zu unseren Lebzeiten zur Staatsreligion Russlands erklärt werden wird?

Vr. Wsewolod: Alles kann auf der Welt geschehen. Politische Wechsel sind immer möglich, ungeachtet einer sichtbaren Stabilität. Ich möchte nur davor warnen, dass orthodoxe Gläubige meinen, dass der Status einer Staatsreligion sofort alle Probleme löst und uns einen direkten Weg in eine lichte Zukunft bahnt, auf dem wir mit kirchlichen Bannern in der Hand ruhig dahin schreiten können. Mir scheint, es wäre richtig, der Orthodoxie einen besonderen Status in Russland zuzuerkennen, es wäre richtig, der Kirche einen sozialen Auftrag auf dem Gebiet der Wohltätigkeit zu geben, auf dem Gebiet der Bildung, auf dem Gebiet der Erziehung, auf dem Gebiet der Massenmedien. Ich bin nicht der Meinung, dass die Einbindung der Kirche in die staatlichen Funktionen, ihre Verkehrung in eine untergeordnete Behörde, zu einer positiven Änderung des Lebens in Russland führt. Ich glaube nicht, dass der Wandel der Orthodoxie zur Staatsreligion und der Orthodoxen Kirche zur staatlichen Behörde alle vorhandenen Schwierigkeiten beseitigt. Irgendwelche Probleme werden vermutlich gelöst, aber es tauchen auch neue auf. Ich kenne viele Vorsteher von Kirchen, die in eine besondere Zusammenarbeit mit dem Staat pflegen, z.B. die protestantischen Kirchen Dänemarks, Norwegens oder Englands. Diese Kirchen leben nicht schlecht. Viele Probleme, die wir haben, sind ihnen fremd. Aber allein der Umfang der rein staatlichen Arbeit, die ihnen auferlegt ist, verwandelt sie – entschuldigen Sie, in so etwas wie unsere Sozialämter.

S.K.: Kann man sagen, dass die symphonischen Beziehungen von Staat und Kirche in Russland in den letzten fünfzehn Jahren eine wirkliche Evolution durchlaufen haben, wenn man die 90-er Jahre mit dem gegenwärtigen Jahrzehnt vergleicht?

Vr. Wsewolod: Von meinem Standpunkt aus kann man in diesen Beziehungen eine enorme Evolution beobachten. Insofern, als der Grad der Zusammenarbeit mit dem Staat, den es jetzt gibt, in den 90-er Jahren völlig undenkbar war. Auf der Ebene der regionalen und lokalen Administration existiert eine ganz echte Partnerschaft, und oft erscheint die Zusammenarbeit auf örtlicher Ebene geradezu als Verkörperung des Prinzips der Symphonie. Deswegen möchte ich hoffen, dass sich die Lage eben in diese Richtung entwickeln wird, auch wenn es weiterhin Streit aus diesem Anlass geben sollte und die Hysterie in einigen unserer Zeitungen bei jedem gemeinsamen Auftritt des Patriarchen und des russischen Präsidenten anhält.

S.K.: Was behindert die Kirche, ihrer Meinung nach, in der Angelegenheit ihrer missionarischen Expansion?

Vr. Wsewolod: Sicherlich gibt es Antiklerikalismus unter den Beamten, Journalisten, unter der fachlichen Elite, die Religion grundsätzlich als schädlich, gefährlich, oder zumindest als unwägbares Phänomen einstufen, von dem sagt, „je weniger, desto besser“. Das sind nicht viele Leute, und die wirklich einflussreichen unter ihnen sind, so denke ich, nur einige Personen. Aber es gibt noch Leute, die übrigens viel zahlreicher sind, die in der Kirche eine Bedrohung ihrer „Freiheit“ sehen zu sündigen. Dieser Kreis ist nicht ausgesprochen antiklerikal gesonnen; man kann in den Gottesdienst kommen, beten, ab und zu die heiligen Gaben empfangen, viele dieser Leute besuchen regelmäßig Klöster, aber gleichzeitig fürchten sie in ihrem Alltagsleben die Stärkung jeglichen religiös-moralischen Faktors im Land. Worum geht es? Ein Bischof erzählte, wie er mit einer gewissen einflussreichen Person sprach, keinem Liberalen, sondern einem gewöhnlichen Russen, der die Kirche unterstützt. Sie unterhielten sich über die religiöse Bildung an den Schulen. Und dabei sagte er, dass man dann, wenn an den Schulen orthodoxe Moral unterrichtet werden wird, nicht mehr wird „leben“ dürfen. Was ist damit gemeint? Man wird nicht mehr, entschuldigen Sie bitte, zu Prostituierten gehen dürfen, keine Orgien mehr veranstalten dürfen und Besäufnisse jeglicher Art. Wenn zu diesem Menschen das Kind aus der Schule kommt und sagt: „Papa, Du lebst nicht richtig. Dass Du mit Mama nicht kirchlich verheiratet bist, ist eine Sünde. Dass Du hin und wieder mit anderen Frauen auf die Jagd fährst, das ist auch eine Sünde“, so wird eine solche Situation für diesen Mann völlig unerträglich sein. Bei uns gibt es Politiker, die vom Podium aus über Sittlichkeit sprechen, bei uns gibt es Geschäftsleute, die Geld für [die Anhebung] der Moral spenden, aber gleichzeitig denken sie mit Schrecken daran, dass man sich in Moskau nirgends mehr wird „losreißen“ können, und wenn man sich außerhalb Moskaus „losreißt“, dann wird das bekannt und einfache Leute verurteilen dich, die eigenen Kinder verurteilen dich. Dieses Motiv ist sehr verbreitet.

S.K.: Im Milieu der russischen Nationalisten fing man an, das Thema der wechselseitigen nationalen und kirchlichen Beziehungen zu erörtern; im Einzelnen kam die Vorstellung davon auf, dass die Russisch-orthodoxe Kirche eine „Nationalkirche“ sei, im rein protestantischen Sinn. Was möchten Sie aus diesem Anlass sagen?

Vr. Wsewolod: Die Nation verstehen wir als eine besondere Wirklichkeit, die das Recht auf kirchliche Unterstützung hat, aber dabei geht es ausdrücklich um die christliche Nation. Ich erinnere mich nicht, dass ein orthodoxer Bischof im positiven Sinn von einer „Nationalkirche“ gesprochen hätte, im Sinn eines Ideals. In den „Grundlagen der Sozialkonzeption“ der Russisch-Orthodoxen Kirche wird sowohl vom positiven, als auch vom negativen Einfluss des nationalen Elementes im kirchlichen Leben gesprochen. Man bringt da sehr oft verschiedene Begriffe durcheinander. Einige verstehen die Nation als ethnische Größe, andere als die Gesamtheit der Bürger eines Staates. In der gegenwärtigen politischen Kultur versteht man Nationalkirche als Kirche, die im besten Fall innerhalb der Grenzen eines Staatsgebildes besteht, und im schlimmsten Fall auf eine ethnische Gruppe bezogen ist. Aber die Russisch-Orthodoxe Kirche überschreitet sowohl die Grenzen eines Staates, als auch einer Nation.

S.K.: Wie bewerten Sie die Entwicklung des theologischen Gedankens im heutigen Russland?

Vr. Wsewolod: Wir leben im „Goldenen Zeitalter“ des orthodoxen Gedankens: Soviele Bücher, soviele Zeitschriften, soviele neue Texte, die jedes Jahr erscheinen, hat es in der Geschichte Russlands noch nie gegeben.

S.K.: Welcher Typ einer staatlichen Verfassung und wirtschaftlichen Ordnung wäre Ihrer Meinung den Bedürfnissen der Kirche am ehesten angemessen?

Vr. Wsewolod: Ich glaube nicht, dass wir zur gegenwärtigen Zeit, da die russische Gesellschaft zu sich selbst finden muss, eine bestimmte staatliche Ordnung aufoktroyieren sollten. Die verschiedensten Staatsformen – heute noch unbekannt, können in dieser geschichtlichen Epoche auftauchen. Ich empfinde keinen Zusammenhang zwischen dem Selbstbewusstsein unseres Volkes und Ideen politischer oder ökonomischer Konkurrenz. Wir haben uns in der Vergangenheit an den Idealen der Einheit und des gemeinsamen Einsatzes orientiert, und werden das auch weiterhin tun, denn Wettbewerb und Konkurrenz rufen nach orthodoxer Auffassung Stolz hervor und sind somit Sünde. Interessenkonflikte sind Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft krank ist. Der Kampf von Firmen, Parteien und Machtgruppen – das sind Krankheitssymptome. Ich denke, wir können die Gesellschaft auf etwas anderen Grundlagen aufbauen. Welche Bezeichnung man dafür findet, und welches politische System das sein wird, weiß ich nicht. Denkbar ist eine Präsidialrepublik oder eine parlamentarische Republik, denkbar ist eine konstitutionelle Monarchie, denkbar ist eine Autokratie, wenn sie vor Stagnation geschützt ist, vor Starrköpfen und vor dem Nichtvorhandensein der Mechanismen der Volksbefragung. Spricht man von Autokratie, so muss man im Auge behalten, dass weder die hl. Schrift, noch andere von Gott geoffenbarte Texte versprechen, dass der zur Herrschaft Gekrönte sofort heilig wird. Da können Fehler passieren, und wie man sie korrigiert – das ist die große Frage.

"Sewernyj Katehon", Nr. 2

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