Sonntag des Blindgeborenen
„Was war das erste, was der Blindgeborene zu Gesicht bekam? Das Antlitz des Mensch gewordenen Gottessohnes. Anders ausgedrückt: Er hat die Mensch gewordene Liebe geschaut. Als seine Augen die des Christus trafen, begriff er Gottes Mitleid, Gottes Liebe, Seine tiefe Sorge und Sein Verständnis für uns. Ebenso wie der Blindgeborene könnten auch viele andere Menschen beginnen, die Welt zu sehen, wenn sie uns begegnen und dann in uns auf Menschen treffen würden, in deren Augen und  Gesichtern sie den Schein wahrer und richtiger Liebe finden könnten.“ – aus einer Predigt zum Sonntag des Blindgeborenen von Metropolit Antonij von Sourozh
Статья

4. Juni 1989 

Wir haben heute die Geschichte vom Blindgeborenen gehört. Wir können uns nicht vorstellen, was es bedeutet, blind zu sein. Doch wir können nachvollziehen, wie eingemauert sich dieser Mensch gefühlt haben muss, da er die Welt, die ihn umgab, nur als Geräusch wahrnahm, als etwas, was er sich bildlich nicht vorstellen konnte. Er konnte sich die Welt um sich vielleicht in seiner Phantasie erdenken, er konnte sie ertasten, er konnte sie akustisch in einem begrenzem Maße differenzieren, doch ein vollständiges Bild der Wirklichkeit blieb ihm immer verschlossen.

Wir sind nicht physisch blind, doch wie viele von uns leben in sich zurückgezogen. Wer von uns kann behaupten, dass er so offen ist, dass er es vermag, die Welt in all ihrer Weite und all ihrer Tiefe aufzunehmen? Wir treffen auf Menschen und betrachten sie mit unseren Augen. Wie oft jedoch erblicken wir hinter der äußerlichen Gestalt eines Menschen, hinter den Zügen seines Gesichts, den Formen seines Körpers auch dessen Tiefe? Wir sind von Menschen umgeben und jeder Mensch ist für Gott einzigartig. Und für uns? Ist auch für uns jeder Mensch einzigartig? Sind es nicht etwa alles nur „Leute“? Ja, sie haben einen Namen. Sie tragen einen Familiennamen oder einen Spitznamen, wir können sie an ihrer äußeren Gestalt voneinander unterscheiden, doch wir wissen nichts von ihnen und der Tiefe, die in ihnen lebt.

So sieht unsere Lage aus. Wir sind also blind, wir sind taub, wir können die Welt, die uns umgibt nicht wahrnehmen. Gleichzeitig sind wir jedoch auch dazu berufen, Zeichen zu lesen. Wenn wir jemanden treffen, sollten wir uns diesem Menschen wie einem Mysterium nähern, das heisst, etwas, was wir für uns nur dann entschlüsseln können, wenn wir uns tief darauf einlassen. Wir sollten mit einem Menschen in einen gegenseitigen Austausch treten, der unsere Tiefen berührt. Das kann ein gemeinsames Schweigen sein, vielleicht aber auch gefasst sein in Worte. Dieser Austausch sollte jedoch so tief sein, dass wir einander kennenlernen können. Nicht so natürlich, wie Gott uns kennt, doch trotzdem sollten wir einander im Schein des Göttlichen Lichtes betrachen lernen, welches jeden von uns im Einzelnen und uns alle zusammen erleuchtet.

Desweiteren können wir - jeder nach seinem Maß, jeder seinem Talent entsprechend - genau das Gleiche tun, was Christus getan hat. Er hat die Augen des Blinden geöffnet. Was war das erste, was dieser dann zu Gesicht bekam? Das Antlitz des Mensch gewordenen Gottessohnes. Anders ausgedrückt: Er hat die Mensch gewordene Liebe geschaut. Als seine Augen die des Christus trafen, begriff er Gottes Mitleid, Gottes Liebe, Seine tiefe Sorge und Sein Verständnis für uns. Ebenso wie der Blindgeborene könnten auch viele andere Menschen beginnen, die Welt zu sehen, wenn sie uns begegnen und dann in uns auf Menschen treffen würden, in deren Augen und Gesichtern sie den Schein  wahrer und richtiger Liebe finden könnten. Eine Liebe, die nicht sentimental ist, sondern fähig ist, die Dinge zu sehen und zu verstehen, wie sie sind. Wenn es so wäre, dann könnten wir den Menschen um uns herum den Sinn des Lebens offenbaren, der die Welt erfüllt und der sie erhält. Sei es mittels der Kunst, mittels der Schönheit, mittels der Wissenschaft und wodurch man noch Schönheit vermitteln und sie zwischen den Menschen verbreiten kann.

Doch was tun wir? Bemühen wir uns etwa darum, jedem, dem wir begegnen, die Weite, Tiefe, Schönheit und Bedeutsamkeit der Dinge nahezubringen? Streben wir nicht meist eher danach, etwas zu bekommen, als zu geben? Apostel Paulus hat aber doch gesagt, dass es besser ist, zu geben, als zu nehmen. Dabei ist ihm so viel geschenkt worden. Ihm ist geben worden, Gott aus eigener Erfahrung im Glauben zu erkennen. Er hat alle Lehren, alle Erkenntnis und alle Erfahrungen, die man aus dem Alten Testament schöpfen konnte, geschenkt bekommen. Danach hat Christus Selbst sich ihm offenbart. Was hat er nicht alles geschenkt bekommen. Trotzdem hat es ihm mehr Freude bereitet, zu geben, denn er wollte all diese Schätze, die ihm zugefallen waren, nicht nur für sich behalten. Er wollte teilen und geben. Er wollte Menschen mit seinem Feuer, das in ihm brannte, entzünden.

Lasst uns uns deshalb bewußt werden, wie reich wir eigentlich sind, wie beschenkt und wie viel uns geben ist, dass wir die Welt sehen und hören. Lasst uns auch eingestehen, wie tragisch es ist, dass wir gleichzeitzig so verschlossen und zurückgezogen in uns selbst leben, solange wir die Mauern in uns nicht aufbrechen, um zu geben und so großzügig zu schenken, dass wir nichts zurückbehalten wollen. So großzügig eben, wie wir auch beschenkt worden sind. Dann wird, nach den Worten Christi, unsere Freude ihre wirkliche Vollendung erfahren und niemand, niemand kann sie uns dann mehr mehmen.

Amen     

 

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