In einem Leserbrief an die Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 26, 21. Juni 2007, S.49) reagiert Oleg Koslow aus Stuttgart auf einen Artikel über den G8-Gipfel in Heiligendamm; in dem Artikel hatte es geheißen, dass sieben der acht Gipfelteilnehmer demokratisch legitimiert seien. Da der Verfasser jenes Artikels den Gipfelteilnehmer ohne demokratische Legitimierung nicht benennt, geht Koslow die einzelnen Staatschefs durch. Zum Beispiel George W. Bush: «Vor sechs Jahren ins Amt gekommen mit Unterstützung von weniger als einem Viertel der Stimmberechtigten Amerikaner, mit weniger Stimmen als sein Hauptkonkurrent und mit Hilfe der kaputten (oder gar manipulierten?) Wahlautomaten und seines Bruders Jepp Bush, Gouverneur von Florida. Aber diesen George W. Bush wird Bernd Ulrich wohl nicht gemeint haben.» Übrig bleibt am Ende nur Vladimir Putin. Dieser sei, so Koslow, seit 2000 «mit großer Mehrheit gewählter Präsident, 2004 wiedergewählt mit über 70%der abgegebenen Stimmen und seit Jahren mit dergleichen Unterstützung seines Volkes für seine Person wie auch für seine Politik.» Der Leserbriefschreiber erklärt, dass er sich in einer Zwickmühle befinde. Er sei kein Freund von Putin und dessen Regime und nennt zahlreiche Mißstände im heutigen Russland. Dennoch ist er überzeugt: «Bei aller Kritik an dem Regime darf man sich nicht zu sachlich unrichtigen, ideologisch aufgeladenen und von Vorurteilen geprägten Parolen hinreißen lassen, die in der Russlandberichterstattung leider allgegenwärtig sind. Denn genau diese unsachliche Kritik ist Wasser auf die Mühlen von Putins Regime, der bei jeder Gelegenheit die doppelte Moral des Westens anprangert.»
Wer sich mit der religiösen und kirchlichen Lage in Russland beschäftigt und regelmäßig die deutschsprachige Presse liest, kann leicht zu einer ähnlichen Einschätzung kommen. So finde ich zwar immer wieder genügend Anlässe, mich über die Russische Orthodoxe Kirche, ihre Vertreter und ihre Anhänger zu ärgern. Aber mindestens ebenso ärgerlich ist in meinen Augen die Einseitigkeit der westlichen Berichterstattung.
Ich habe diesen Ärger zum Anlass genommen, in den Monaten Februar bis Juni 2007 systematisch die Berichterstattung über die Russische Kirche in deutschsprachigen Medien zu verfolgen, und habe mit Hilfe von Internet-Suchmaschinen knapp fünfzig Zeitungsartikel gefunden, die sich - zentral oder am Rande - mit der russischen Orthodoxie befassen. Dabei handelt es sich um kurze Hinweise auf oder um Berichte über Konzerte russischer Chöre, die Gesänge der orthodoxen Kirche zur Aufführung bringen, «gestandene Mannsbilder mit gewaltigen Singstimmen» («Kosakengesang erfüllte Kirche», in: Frankfurter Neue Presse, 20. März 2007) oder um die Eröffnung einer Ikonenausstellung in der Sparkasse Neckartal-Odenwald (Peter Lahr berichtete darüber im März in der Rhein-Neckar-Zeitung unter der Überschrift «Das Heilige' ist in die Sparkasse einge zogen»). Die meisten Artikel aber beschäftigen sich mit aktuellen Themen und Ereignissen: dem Besuch Putins beim Papst im März 2007, der Ausstellung «Verbotene Kunst» im Moskauer Sacharow-Museum (März und April), den orthodoxen Protesten gegen Demonstrationen von Homosexuellen in Moskau (März und Mai), dem orthodoxen Osterfest (April), der Wiedervereinigung des Moskauer Patriarchats mit der Russischen Orthodoxen Auslandskirche im Mai 2007, zu der Katja Tichomirowa einen wohltuend sachlichen Artikel für die «Berliner Zeitung» verfasste («Unter dem Dach des Patriarchen»; 16. Mai 2007). Außerdem findet die Russische Kirche Erwähnung in Artikeln u.a. zur Verleihung des Buchpreises zur europäischen Verständigung an Michail Ryklin im März 2007 oder zur Beerdigung von Boris Jelzin im April.
Diese Übersicht beschreibt das Spektrum der Bilder von der Orthodoxie in Russland, die sich deutsche Journalisten machen. Kurz zusammengefasst, changiert das Bild der Russischen Kirche dabei zwischen ästhetischer Faszination und Ablehnung ihrer vermeintlich vormodernen und fundamentalistischen Haltung. Dabei zeigen nähere Analysen von Artikeln, wie Daten und Informationen aufbereitet werden, um dieses oder jenes Bild zu stützen - und wie sie gerade nicht zum Anlass genommen werden, eigene Vorurteile zu hinterfragen.
«Wider den humanistischen Liberalismus»
In dem Artikel «Wider den humanistischen Liberalismus» (DIE WELT, 16. Mai 2007) zeigt sich die beschriebene Ambivalenz gegenüber der russischen Orthodoxie in besonders deutlicher Weise, wenn Gernot Facius schreibt: «Gewiss, in der orthodoxen Liturgie leben das altkirchliche Verständnis und die alte Praxis des Gottesdienstes unmittelbar weiter. Aber Orthodoxie, vor allem in ihrer russischen Prägung, ist mehr als die Summe von Weihrauch, feierlicher Liturgie und prächtigen Ikonen. Sie ist mehr als ein Farbtupfer auf der kirchlichen Landkarte. Sie stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was in eine moderne Kirchlichkeit eingeflossen ist und postuliert einen Alleinvertretungsanspruch, dem sich weder Katholiken noch Protestanten unterwerfen können.»
Der ästhetische Eindruck des Gottesdienstbesuchers - Weihrauch, Gesang, Ikonen - wird hier deutlich positiv gewertet und mit einer Beschreibung von Orthodoxie in Verbindung gebracht, die durchaus dem orthodoxen Selbstverständnis entspricht: Kirche in der ungebrochenen liturgischen Tradition der frühen Christenheit. Schon das erste Wort des folgenden Satzes zeigt dann aber, dass dieser vom Verfasser positiv bewerteten Seite eine negative beiseite gestellt werden müsse: Orthodoxie sei noch etwas anderes. Nun folgen die negativ besetzten Züge der ROK. Als negativ gilt zum einen die vermeintliche Ablehnung des Modernen. Hier wie in anderen Artikeln fällt auf, dass modern zu einem quasimoralischen Zentralbegriff der westlichen Berichterstattung wird. Was modern ist, scheint per se als gut bewertet werden zu müssen. Zum anderen gilt dem Verfasser als negativ, dass die Russische Kirche einen «Alleinvertretungsanspruch» postuliere. Durch den Kontext wird deutlich, dass das ebenfalls als nicht kompatibel mit der Moderne erscheint. Aber der Vorwurf geht noch weiter: Damit sei, so wird zumindest suggeriert, ein Herrschaftsanspruch über Katholiken und Protestanten verbunden. Diese sollten sich der Orthodoxie «unterwerfen» - was sie (selbstverständlich, so legt Facius nahe) nicht könnten. Den Nachweis, wann und wo die Russische Kirche eine Unterwerfung der Katholiken und Protestanten gefordert habe, bleibt Facius schuldig. Er dürfte auch kaum Belege für einen solchen Anspruch finden.
Im weiteren Verlauf des Artikels arbeitet Facius ähnlich: Einzelne Beobachtungen werden zu einem lückenhaften Bild zusammengesetzt, das erst durch die wertende Interpretation vollständig wird - und dann die Orthodoxie in schlechtem Lichte erscheinen lässt. So, wenn Facius schreibt: «Europa, die Europäische Union, die Kirchen im Westenverlangen von den Orthodoxen Antworten auf sozialethische Fragen, auf die sie unzureichend vorbereitet sind. Eine sozialethische Erneuerung ist trotz eines Moskauer Ansatzes im Jahr 2000 ausgeblieben. Sie kann auch nur auf einer panorthodoxen Synode beziehungsweise einem panorthodoxen Konzil beschlossen werden. Alle orthodoxen Kirchen müssten zustimmen. Ein solches Treffenist vorerst nicht zu erwarten.»
Wieder erscheint «Erneuerung» als positive Kategorie, die die Russische Kirche nicht zu erreichen vermag. Der knappe Hinweis, die im In- und Ausland vielbeachtete Sozialdoktrin der Russischen Kirche aus dem Jahre 2000 sei «unzureichend», ist für den durchschnittlichen Leser der WELT nicht nachprüfbar. Eine Begründung, warum dieser Text nicht weiterführe, fehlt ebenso wie eine kurze Darstellung der Inhalte und der kirchlichen Positionen zur Sozialethik. Überraschend ist dann, wie Facius quasi ein panorthodoxes Konzil fordert. Dies legt nahe, die Russische Orthodoxe Kirche äußere sich nur unverbindlich zu sozialethischen Fragen, sie benötige aber eigentlich die Zustimmung zu ihren Positionen durch ein solches Konzil. Dass das «nicht zu erwarten» sei, unterstreicht dann die Meinung des Autors, wonach die Orthodoxie nicht als Modernetauglich eingestuft werden kann.
Aufschlussreich ist es, wenn man dieses Argument auf den Protestantismus überträgt: Auch die evangelischen Kirchen haben keine einheitliche sozialethische Haltung, auf die sich alle evangelischen Kirchen verständigt hätten. Es würde im übrigen auch ihrem Selbstverständnis widersprechen, eine einheitliche Haltung ein für allemal verbindlich für alle gemeinsam festlegen zu wollen. Dies kann man als evangelische Tugend des demokratischen Diskurses würdigen. Kaum jemand aber käme auf die Idee zu behaupten, der Protestantismus sei deshalb unzureichend auf aktuelle Herausforderungen vorbereitet, weil ein einheitliches Lehramt fehlt! Nebenbei: Angenommen, es gäbe ein panorthodoxes Konzil, das sich auf sozialethische Stellungnahmen einigen würde - gäbe es dann nicht die Kritik in der westlichen Presse, die orthodoxe Kirche würde die autonome Entscheidung des Individuums nicht anerkennen - und sei folglich antimodern?
Ein letztes Beispiel aus dem Artikel von Facius: «Und zum Entsetzen westlicher Beobachter der russischen Religionsszene identifizierte der Metropolit [Kirill (Gundjajev)] sich mit der orthodox-patriotischen Staatsideologie [...]: Die Nationschafft den Glauben und die Religion. [...] Undenkbar, dass sich diese Vorstellungen einer engen Verbindung von Nation und Religion mit der westlichen Tradition der Trennung von Staat und Kirche werden versöhnen lassen.»
Facius bietet leider keine Belege dafür, dass Kirill meint, die Nation schaffe Glauben und Religion; und mir scheint es sehr unwahrscheinlich, dass der Metropolit dieser Formulierung zustimmen würde. Wahrscheinlicher ist, dass er hier wie an anderen Stellen darauf hinweist, dass die Orthodoxie die russische Kultur maßgeblich geprägt hat. Das aber ist empirisch nicht ernsthaft zu bezweifeln. Was wiederum die Gegenüberstellung von Ost und West angeht, so überrascht, wie hier ein Bild von dem Westen präsentiert wird, der vermeintlich Staat und Kirche sauber voneinander trennt. Das klingt, als gäbe es keine staatskirchlichen Traditionen in Skandinavien und Großbritannien. Dass der französische Laizismus gegen die römischkatholische Kirche erkämpft wurde und im Vatikan-Staat religiöse Autorität und weltliche Macht in eins fallen, müsste dann der Logik von Facius entsprechend dazu führen, auch die römisch-katholische Kirche als nicht-westlich anzusehen. Und auch mit Blick auf Facius' Ablehnung der unwestlichen «engen Verbindung von Nation und Religion» fragt man sich, ob denn die stark national-religiösen Identitäten beispielsweise in Polen oder Irland nicht zum Westen gehören. Dass die Russische Kirche und Russland hier noch einmal als vormodern erscheinen, weil sie nicht zur Trennung von Staat und Kirche gefunden hätten, überrascht weniger. Diese Einschätzung liegt auf der Linie des ganzen Artikels. Freilich würde ein differenzierter Vergleich von Russland und Deutschland zeigen, dass Russland in einigen Bereichen deutlich laizistischer ist als Deutschland. So sind Kirchen in Russland keine Körperschaften des öffentlichen Rechts, es gibt keine Kirchensteuer und keinen staatlich garantierten Religionsunterricht. Ob bzw. für wen dies vorteilhaft ist und ob damit die politischen Freiheiten und Menschenrechte besser zur Geltung gebracht werden können - das sind andere Fragen, denen differenziert nachzugehen lohnend wäre.
Staat und Kirche - wer beherrscht wen?
Die vermeintlich fehlende Trennung von Staat und Kirche ist ein ständig wiederkehrender Vorwurf in Richtung Russland. Einig sind sich die deutschsprachigen Medien aber nicht darin, wer denn nun wen beherrscht. Ist die Kirche abhängig vom Staat - oder lenkt die Kirche die Politik? Skurril wird es, wenn ein und dieselbe Person sowohl die eine, als auch die andere These aufstellt und als Vorwurf formuliert. So Elke Windisch, die im Berliner «Tagesspiegel» über Russland berichtet. Wiederum erscheint dabei die Russische Kirche als vormodern im negativen Sinne. In «Orthodoxe Fundamentalisten in Russland auf dem Vormarsch» («Tagesspiegel», 18. 6. 2007) schreibt Windisch (fälschlicherweise im Plural) von den Bischöfen (statt von einem Bischof) «der Eismeer-Halbinsel Tschukotka», die an Patriarch Alexij II. «Forderungen [...] wie aus einem Katalog aus finstersten Zeiten der Inquisition» geschickt hätten. Nur am Rande sei erwähnt, dass die «Inquisition» als negative Chiffre dient, ohne dass die zitierten Forderungen etwas mit der historischen Inquisition zu tun hätten. Vielmehr votiert dieser Bischof (Diomid [Dzjuban, *1961] von Anadir und Tschukotka) in seinem Brief für die Wiedereinführung einer Monarchie, ruft zum Kampf gegen «Alkoholismus und Drogenmissbrauch» auf und zur Ablehnung von «Impfungen, Abtreibungen und Homosexualität». Inwiefern welche der Inhalte des Briefes fundamentalistisch sind - Fundamentalismus dient hier als negative Chiffre, bestätigt Vorurteile und lenkt die Erwartungshaltung der Leserinnen und Leser, ohne ihnen ein tieferes Verständnis der Situation zu verschaffen -und ob wirklich «Fundamentalisten in Russland auf dem Vormarsch» sind oder sich nur eine kleine, aber laute Minderheit innerhalb der Kirche mal wieder zu Worte meldet, wird nicht erörtert.
Interessanter in unserem Zusammenhang aber ist die Erklärung, die Elke Windisch für den Konflikt innerhalb der Russischen Kirche gibt: «Massiv unter Druck der Fundamentalisten» komme der Patriarch wegen «Projekten, die er weniger aus eigener Einsicht betreibt, sondern eher, weil der Kreml ihn drängt». Genannt werden dann die Annäherung an den Vatikan und die mittlerweile erfolgte Wiedervereinigung mit der Auslandskirche. Über die Auslandskirche schreibt Windisch (fälschlicherweise und im unsachlichen Stil, aber in Übereinstimmung mit ihren Vorurteilen), dass diese «erheblich tolerantere Positionen als die Kirchenväter in Moskau» vertrete. Ihr scheint nicht bekannt zu sein, dass die Russische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats seit 1961 Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen ist und dass gerade ihre Mitarbeit in ökumenischen Gremien für die angeblich liberale Auslandskirche eines der Haupthindernisse auf dem Weg zur Wiedervereinigung der getrennten russischen Kirchen war. Möglicherweise liegt dieses Fehlurteil in der Meinung begründet, eine russische Auslandskirche mit regionalem Schwerpunkt in Nordamerika und Westeuropa müsse einfach fortschrittlicher sein, da sie ja in den modernen Regionen der Welt beheimatet sei.
Erscheint hier die Russische Kirche negativ als eine Kirche, die unterwürfig den Anweisungen aus dem Kreml nachkommt, so verwundert ein Blick in einen anderen Artikel derselben Autorin. In «Darüber spricht ganz Russland» («Tagesspiegel», 11. 2. 2007) berichtet Elke Windisch von einem Prozess in St. Petersburg, in dem die Schülerin Maria Schreiber gegen die Evolutionslehre im Fach Biologie geklagt hatte, weil diese ihre religiösen Gefühle verletze. Zuerst habe, so Windisch, die demokratische Öffentlichkeit belustigt reagiert. Doch nachdem sich Patriarch Alexij II. in dieser Angelegenheit zu Wort gemeldet habe, «blieb den Spöttern das Lachen in der Kehle stecken». Windisch malt dann in einer Terminologie, die an die polemische Sprache der real-existierend-sozialistischen Presse erinnert, das (Zerr-)Bild einer orthodoxen Kirche, die Staat und Justiz kontrolliere und vor der sogar Präsident Putin Angst habe: «Nicht nur die Familie Schreiber, sondern auch die Öffentlichkeit vermuten nun, dass das Gericht sämtliche Biologielehrbücher einstampfen lassen wird. Denn Seiner Heiligkeit wagt nicht einmal Wladimir Putin öffentlich zu widersprechen. [...] De jure sind auch in Russland Staat und Kirchegetrennt. De facto mischen die Popen sich immer unverfrorener in Bildung und Erziehung ein.» Der Artikel endet mit den Worten: «Auch der Sieger im <Affenprozess> steht daher schon fest.»
Das Klischee einer fundamentalistischen Kirche trifft hier auf das Vorurteil, dass Russland keine auch nur annähernd unabhängige Justiz haben könne. Gut eine Woche nach dem Erscheinen dieses Artikels wurde die Klage Maria Schreibers vom Gericht übrigens abgewiesen. Darüber berichtete aber weder der Tagesspiegel noch der «Stern», in dem Friedemann Kohler unter der Überschrift «Orthodoxe Attacke auf Darwin» am 5. Februar 2007 ebenfalls über den vermeintlich skandalösen Prozess berichtet hatte.
Wird die fehlende Trennung von Staat und Kirche in Russland kritisiert, so kommt zumeist der Vorwurf hinzu, die Kirche lasse sich politisch instrumentalisieren. Dabei überlappen sich häufig die negativen Stereotype über die Russische Kirche mit denen über die russische Politik. Passen Ereignisse nicht ins Bild, so werden sie passend gemacht. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung von Monika Kemen über den Moskauer Gipfel der Führer der Weltreligionen in der Sendung «Tag für Tag» im Deutschland-Funk (10. 7. 2006). Darin hieß es: «Was veranlasste wohl den russisch-orthodoxen Patriarchen Aleksij II., im Vorfeld des Petersburger G8 Gipfels mehr als 200 hochrangige Vertreter der großen Weltreligionen nach Moskau einzuladen? Bei der Staatsnähe des Moskauer Patriarchats lag der Verdacht nahe, dass es sich um eine rein politisch motivierte Schaufensterveranstaltung handeln könnte. [...] Zweifellos passte Aleksijs Initiative dem Kreml gut ins Konzept. Der russische Staatspräsident Wladimir Putin ließ es sich denn auch nicht nehmen, auf dem Gipfel der Weltreligionen zu erscheinen.»
Anscheinend passt ein interreligiöser Gipfel nicht ins Bild einer rückständigen, dialogfeindlichen und ultrakonservativen Kirche, die sich, so Jan Feddersen, «allen freiheitlichen Impulsen stets widersetzt» habe («Wer mahnt, verliert», in: TAZ, 26. 3. 2007). Deshalb sucht Monika Kemens in ihrem Radiobeitrag eine Erklärung, die dem eigenen Weltbild entspricht. In diesem Falle ist es die Erklärung (die zudem auf das Stereotyp von der Staatskirche zurückgreifen kann), es handele sich um eine «rein politisch motivierte Schaufensterveranstaltung». Der abwertende Begriff «Schaufensterveranstaltung» diskreditiert dann von vornherein die gesamte Veranstaltung. Der Besuch Putins wiederum wird nicht etwa als positiv gewürdigt, wie es vermutlich der Fall gewesen wäre, würde der deutsche Bundespräsident oder die Kanzlerin bei einer ähnlichen Veranstaltung in Deutschland erscheinen, sondern als Beleg für die Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke.
«Saudi-Russland» und «Russowahhabismus»
In der sprachlich extremsten Form begegnet ist mir der pauschale Vorwurf an die Russische Kirche, staatskirchlich-fundamentalistisch zu sein, in einem Radiobeitrag von Heinz Gstrein für die Sendung «Tag für Tag» im Deutschland-Funk (5. 4. 2007; eine leicht veränderte Version des Textes mit dem Titel «Orthodoxe Eiferer. Ein Saudi- statt Sowjetrussland» findet sich unter dem Datum 12. April 2007 auf der Internet-Seite von Jesus.ch). Darin ist von «Saudi-Russland» und dem «Russowahhabismus» die Rede, wobei nicht ganz klar ist, ob dies Zitate sind oder die Wortwahl von Gstrein selbst stammt. Die Begriffe, die auf die Staatsreligion des Königreichs Saudi-Arabien anspielen, fallen hier in einem Artikel über das Sacharow-Museum in Moskau. Dieses Museum war und ist Angriffen orthodoxer Fanatiker ausgesetzt, welche die vermeintlich blasphemischen Kunstausstellungen verhindern wollen. 2003 wurde die Ausstellung «Vorsicht, Religion!» verwüstet, die Randalierer allerdings vom Gericht freigesprochen, während der Museumsdirektor Jurij Samodurov zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Vor diesem Hintergrund sind seine Verbitterung und seine Einschätzung gut zu verstehen, in «Moskau sei man auf dem schlechtesten Weg, das einstige Sowjetrussland durch ein Saudi-Russland zu ersetzen. Die Unduldsamkeit der heute wie der zu 80 Prozent gläubig orthodoxen Russen könne nur mit der der wahhabitischen Eiferer von Saudi-Arabien verglichen werden.» Von einem verantwortungsbewussten Journalisten aber, der keine antirussische und antiorthodoxe Polemik machen will, muss man eine Einordnung solcher Aussagen erwarten. Denn zum einen ist der Vergleich Russlands mit Saudi-Arabien sachlich vollkommen unangemessen: In Saudi-Arabien ist beispielsweise der Besitz einer Bibel verboten, und selbst in Privatwohnungen darf kein christlicher Gottesdienst gefeiert werden, während in Russland Religionsfreiheit gewährt wird. Zum anderen ist die Begrifflichkeit deshalb überzogen, weil mit ihr im russischen Kontext auf die als Wahhabiten eingestuften islamistischen Terroristen aus Tschetschenien angespielt wird. Wer aber die Zerstörung einer Kunstausstellung sprachlich gleichsetzt mit terroristischen Aktionen wie dem Überfall auf die Schule Nr. 1 in Beslan oder das Moskauer Musical-Theater «Nord-Ost», bei denen viele hundert Menschen ums Leben kamen, der diskreditiert sich selbst.
Zuspitzen und skandalisieren - unvermeidlich in journalistischer Arbeit?
Unbestreitbar gibt es genügend Anlass, reaktionäre Trends in der Russischen Kirche aufzuspüren und darüber zu informieren. Unbestreitbar ist auch, dass es zu Fällen politischer Instrumentalisierungen der Orthodoxie kommt - und dass dies vielen Vertretern der Russischen Kirche zu gefallen scheint, solange damit die Stellung der Kirche gestärkt wird. Erschreckend ist aber, wie einseitig die westliche Berichterstattung im Großen und Ganzen ihre Themen auswählt, um damit ein vorgefasstes negatives Bild zu stärken. Was nicht in dieses Bild passt, wird ignoriert oder, wie gezeigt, durch eine entsprechende Interpretation zurechtgebogen. Nur in Ausnahmefällen werden solche journalistischen Interpretationen durch andere Journalisten kritisiert und problematisiert - so wenn es Sonja Margolina zu weit geht, dass Kerstin Holm sogar noch in der orthodoxen Lehre eine Affinität zur Korruption sehe und selbst in der umgekehrten Perspektive orthodoxer Ikonen einen Ausdruck der «Korruption der individualistischen Werte» erkenne (Rezension zu Kerstin Holms Buch «Das korrupte Imperium» in der Literaturbeilage der ZEIT vom 25. 9. 2003).
Sicherlich liegt ein Problem auch darin, dass es zur alltäglichen Berichterstattung gehört, zu vereinfachen und eher über Skandale und schlechte Neuigkeiten zu berichten als über gute Nachrichten und Alltäglichkeiten. Ein Artikel über «Orthodoxe Fundamentalisten in Russland auf dem Vormarsch» wird eben eher gelesen (und gedruckt!) als eine differenzierte Reportage über das alltägliche Leben in einer orthodoxen Pfarrei. Selten auch gibt eine Zeitung so viel Raum für die Berichterstattung über russische Orthodoxie wie der «Rheinische Merkur», in dem am 10. Mai 2007 Gerd Stricker ausführlich über die Wiedervereinigung der Russischen Kirche und der Auslandskirche berichten konnte. Und die Erfahrung, verzerrt dargestellt zu werden, machen nicht nur orthodoxe Christen, sondern auch Muslime - und letztlich sogar Buddhisten, wenn deren Religion in der deutschsprachigen Presse idealisiert und positiv überzeichnet wird.
Dabei ist es in den meisten Fällen vermutlich nicht einmal eine persönliche Abneigung gegen die russische Kirche, die zu der negativen Berichterstattung über die Orthodoxie führt. Eher reproduzieren Journalisten nicht-hinterfragte Klischees und sind sich nicht einmal dessen bewusst, dass eine bestimmte Ausdrucksweise als verletzend empfunden werden kann. Auch dies gilt in ähnlicher Weise für andere Religionen. So hat Kai Hafez, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Erfurt, die Darstellung des Islam in ARD und ZDF untersucht. Im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT (21. 6. 2007, S.37) sagt er: «Positiv stachen vor allem Dokumentationen und Reportagen heraus. Wenn Journalisten aus den Redaktionsstuben herauskommen, sich vom Nachrichtenticker lösen und selbst ins Feld gehen, bekommen sie einen ganz anderen thematischen Zugang zum Islam.»
Gleiches könnte sicherlich für die Berichterstattung über die Orthodoxie gelten - wenn nicht die Vorurteile so stark sind, dass beim Gang ins Feld dann doch wieder nur das gesehen und bestätigt gefunden wird, was die Beobachtenden ohnehin schon zu wissen meinten.
Joachim Willems, Dr.theol., Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Humboldt-Universität Berlin.
Erstmals erschienen in: G2W 3/2008, S,24.27