Митрополит смоленский и калининградский Кирилл –„Противостоять плохому и укреплять хорошее"
Богослов.ru публикует интервью с Его Высокопреосвященством Патриаршим Местоблюстителем Митрополитом Кириллом, взятое по случаю 25летнего юбилея епископской хиротонии журналом «Церковь и время». На немецкий язык интервью переведено институтом экуменических исследований в городе Фрибурге.
Статья

Eminenz, welche Gefühle bewegen Sie beim 25jährigen Jubiläum Ihres bischöflichen Dienstes?

In erster Linie das Gefühl einer großen Dankbarkeit Gott gegenüber für den ganzen Lebensweg, den ich zurückgelegt habe. Dankbar bin ich auch für meine Eltern und Lehrer, für die Freuden und Leiden, durch die der Herr mich geleitet hat. Wenn ich meinen Lebensweg überblicke, muß ich sagen, daß sowohl die Freuden als auch die Leiden für die Entwicklung meiner Persönlichkeit, für die Fülle menschlichen Lebens ganz unabdingbar waren. Denn der Mensch kann zur Persönlichkeit nicht nur durch die freudigen Ereignisse seines Lebens werden, sondern auch durch die Schwierigkeiten und Schicksalsschläge, die er zu ertragen und zu überwinden hat. Darin gerade besteht das menschliche Leben. Dem Bösen zu widerstehen und das Gute zu stärken, zu dem wir als Christen berufen sind – das ist die Bestimmung, die Gott dem Menschen gegeben hat.

Sie wurden in der Familie eines Priesters geboren. Auch Ihr Großvater war Priester. Können Sie uns nicht etwas ausführlicher von Ihrer Familie erzählen?

Ich wurde im Jahre 1946 in der Familie eines Ingenieurs geboren, der in einer Rüstungsfabrik arbeitete. Priester wurde mein Vater im Jahre 1947, d.h. im Jahr nach meiner Geburt. In den zwanziger Jahren hatte er am Petersburger Theologischen Institut studiert, das später in ein Institut für höhere theologische Studien umgewandelt wurde. Dieses Institut war gegründet worden dank der Bemühungen des Protopriesters Nikolaj Tschukov, des späteren Metropoliten Grigorij von Leningrad und Novgorod, der sehr viel für die Rettung des theologischen Bildungswesens der Russischen Orthodoxen Kirche getan hat. Er war ein begabter Theologe und ein begnadeter Pädagoge. Selbst als in den zwanziger Jahren die Geistliche Akademie und das Seminar in St. Petersburg geschlossen wurden, verteidigte er die Auffassung, daß die mittleren und höheren theologischen Schulen in der Russischen Orthodoxen Kirche unbedingt zu erhalten seien. Es gelang ihm, eine einzigartige Ausbildungseinrichtung aufzubauen. Mit Hilfe von Professoren der St. Petersburger Geistlichen Akademie und der Kaiserlichen Universität in St. Petersburg, die aus einer ganzen Reihe von Gründen ihre Arbeit nicht weiter fortsetzen konnten, gründete er ein theologisches Institut. Bald war diese Ausbildungseinrichtung Repressalien unterworfen, die Behörden versuchten sie zu schließen. Um den Schlag abzuwenden und eine mögliche Schließung zu verhüten, nahm der spätere Bischof Grigorij – damals Protopriester Nikolaj Tschukov und Rektor dieses Institutes – eine Umbenennung vor, in der nur noch von „Kursen“ die Rede war. Doch die Änderung der Bezeichnung änderte nichts an der Sache selbst. Es unterrichteten dort ausgezeichnete Pädogogen und Professoren. Mein Vater studierte gemeinsam mit dem bekannten Liturgiker Nikolaj Dmitrievitsch Uspenskij, der einige Ausbildungsjahrgänge über ihm war. Unter den Professoren, die Vorlesungen hielten, waren, wie ich meine, die besten, die sich zu dieser Zeit noch in Freiheit befanden.

Danach wurden die Kurse geschlossen. Mein Vater wollte in das medizinische Institut eintreten, doch die Behörden erlaubten es ihm nicht. So ging er zur Armee und trat nach der Beendigung des Militärdienstes in das Institut für Militärmechanik ein, wo er eine entsprechende Fachausbildung erhielt. 1946 bekleidete er die Stelle eines Ingenieurs in einer der Rüstungsfabriken Leningrads. Doch der Wunsch, Priester zu werden, bestand bei meinem Vater weiterhin. Dieser Wunsch wurde noch stärker, als er Repressalien ausgesetzt war und mehr als drei Jahre in Lagern und in der Verbannung verbrachte. Unter Druck gesetzt wurde er allein deshalb, weil er als Student einer weltlichen Hochschule, der gleichzeitig in einem Betrieb arbeitete, an Samstagen, Sonn- und Feiertagen im Chor der Kiever Klosterkirche in St. Petersburg an der Leutnant-Schmidt-Uferstraße (die anscheinend bis zur Revolution Nikolaus-Uferstraße hieß) sang. Dort, im Kirchenchor, lernte er meine Mutter kennen, die damals ebenfalls studierte und arbeitete und an ihren freien Tagen im Kirchenchor sang. Einige Tage vor der Hochzeit wurde mein Vater verhaftet und nach Kolyma gebracht; er war einer derjenigen, die das dortige Gebiet erschlossen. Die Hochzeit wurde erst nach der Rückkehr meines Vaters gefeiert. Deshalb war es eine späte Heirat – Vater und Mutter waren ungefähr dreißig Jahre alt.

Als ich als Erzbischof die Leitung der Smolensker Eparchie übernahm und nach Smolensk kam, besuchte mich eines Tages ein Schauspieler des dortigen Schauspielhauses, der mir erzählte, daß sein Vater mit meinem Vater im Gefängnis gesessen habe. Anfangs wollte ich das nicht glauben. Doch er zeigte mir Briefe, in denen sein Vater die Reise von Leningrad nach Kolyma beschreibt und davon berichtet, wie man sie in randvoll mit Menschen vollgestopften Waggons nach Osten verfrachtete und alle in einer niedergeschlagenen, düsteren Stimmung waren. Unter ihnen war jedoch ein merkwürdiger junger Mann namens Mischenka Gundjaev, ein fröhlicher, heiterer Mensch, dessen Gesicht immer strahlte. Wenn man ihn fragte: „Worüber freust du dich?“, antwortete er: „Warum soll ich denn traurig sein, man hat mich ja nicht aufgrund eines Vergehens eingesperrt, sondern wegen meiner Treue zum Herrn.” Und diese frohgemute Stimmung bewahrte er sein ganzes Leben hindurch. Er war ein gütiger und verträglicher Mens­ch, ein Mensch, der tief im Geist und im Gebet lebte. Und natürlich war er ein sehr starker Mensch, obgleich in seinem Gesicht nie etwas von dieser Stärke zu sehen war. Auch als er sich an die Zeit im Gefängnis erinnerte, fand er immer gute Worte für die Menschen, mit denen er dort zu tun gehabt hatte.

Mein Großvater empfing die Priesterwürde zehn Jahre, nachdem mein Vater Priester geworden war. Sein Schicksal ist noch viel dramatischer. Er verbrachte etwa dreißig Jahre in Gefangenschaft. In den zwanziger und dreißiger Jahren kämpfte er gegen die „Erneuerer” (Obnovlenzy4) und stand dem Patriarchen Sergij nahe, als dieser Metropolit von Nizhnij-Novgorod war. Von diesem erhielt er persönliche Anweisungen, wie gegen diese Bewegung gekämpft werden sollte, und sein Kampf war recht erfolgreich. Zusammen mit seinem Cousin eröffnete er eine Kerzenwerkstatt, und wenn die Ältesten der Kirchen der Erneuerer kamen, um Kerzen zu holen, überredete mein Großvater sie, in die Kirche zurückzukehren und die schismatische Bewegung zu verlassen. Wenn sie hartnäckig auf ihrem Sektierertum bestanden, weigerte er sich einfach, ihnen Kerzen zu überlassen. Letztendlich führte diese Politik von Zuckerbrot und Peitsche dazu, daß innerhalb weniger Monate die Mehrheit der Gemeinden des Gebiets von Lukojanovsk, wo mein Großvater lebte, in die Orthodoxe Kirche zurückkehrte. In meinem persönlichen Archiv befinden sich Kopien von Artikeln der Lokalpresse, in der eine ganze Hetzkampagne gegen meinen Großvater angezettelt worden war. Man beschuldigte ihn, religiösen Fanatismus entfacht zu haben. Schließlich wurde er festgenommen, dann nach einer Weile wieder freigelassen und danach noch einmal ins Gefängnis gebracht. Nach seiner endgültigen Befreiung zog er noch lange Jahre ohne Paß und Aufenthaltserlaubnis umher, lebte, wohin es ihn verschlug, als Obdachloser, und konnte nicht nach Hause zurückkehren.

Sein Leben normalisierte sich erst nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren. Mitte der fünfziger Jahre empfing er die Diakonweihe, dann wurde er Priester und diente sein ganzes verbleibendes Leben als Priester im Dorf Usa-Stepanovka in Baschkirien. Er übte seinen priesterlichen Dienst niemals in einer Stadt aus, sondern blieb Dorfpfarrer. Es wird erzählt, daß er vierzehn Kilometer zu Fuß gehen mußte, um einem Kranken oder Sterbenden die Kommunion zu bringen. So lebte er bis zu seinem 91. Lebensjahr. Im Alter von neunzig Jahren bat er Patriarch Alexij I. um Versetzung in den Ruhestand. Der Patriarch empfing ihn persönlich. Großvater bedauerte sehr, daß er um den Ruhestand bitten mußte, doch er konnte seinen Dienst nicht länger versehen, weil er erblindet war. Patriarch Alexij sagte zu ihm: „Vater Vassilij, Sie haben Ihr ganzes Leben Gott übergeben und viel erlitten, jetzt ist die Zeit zum Ausruhen gekommen. Ich gebe meinen Segen für Ihren Ruhestand“. Großvater kehrte in unser elterliches Haus zurück im Dorf Obrotschnoje zurück (jetzt gehört es zur Republik Mordowien, früher zum Regierungsbezirk von Arzamassk). In diesem Haus verstarb er am 31. Oktober 1969.

Sie sind in Petersburg geboren, aufgewachsen und haben dort viele Jahre verbracht. Welche für Erinnerungen sind für Sie mit dieser Stadt verbunden?

Äußerst starke und äußerst lebhafte, weil ich in dieser Stadt nicht nur aufgewachsen bin, sondern weil sich hier auch ein bedeutender Teil meines kirchlichen Dienstes abgespielt hat. Die Stadt an sich ist natürlich etwas ganz Besonderes: hier sind zwei Kulturen, zwei Zivilisationen einander begegnet. Einerseits wurde diese Stadt von westlichen Architekten erbaut, andererseits ist sie eine orthodoxe Stadt. Daß die majestätischsten orthodoxen Kirchen Peterburgs in westlichem Stil erbaut sind, zeugt nicht von der Schwäche unserer Vorfahren, sondern von der Stärke des russischen Geistes. Im 18. und 19. Jahrhundert hatten wir keine Angst vor der Begegnung mit einer anderen Kultur, weil wir selbst sehr stark waren. Nebenbei gesagt: eine unerläßliche Bedingung für jeden Dialog mit Menschen einer anderen Kultur besteht in der inneren Stärke dessen, der in den Dialog eintritt, andernfalls endet das Gespräch mit einer Niederlage und vielleicht sogar mit einer Unterjochung. Das orthodoxe Petersburg hat also niemals aufgehört, russische Hauptstadt und eine orthodoxe Stadt zu sein, ungeachtet dessen, daß hier in kultureller Hinsicht eine Begegnung mit dem Westen erfolgte. Die Verbindung zwischen der Treue zu den eigenen Prinzipien und der Bereitschaft zum Dialog – das habe ich meiner Erziehung in Petersburg zu verdanken.

Wie reifte in Ihnen der Wunsch, der Kirche zu dienen, und welche Rolle spielte in Ihrem Leben der Metropolit Nikodim von Leningrad und Nov­gorod?

Ich wollte immer Priester werden und kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich das nicht gewollt hätte. Bald nachdem ich laufen und sprechen gelernt hatte, verlangte ich nach einem eigenen Meßgewand. Eine Nonne, Kirchendienerin in der Kirche der Ikone der Gottesmutter von Smolensk auf dem Smolensker Friedhof in Leningrad (es war die erste Kirche, an der mein Vater als Priester tätig war), nähte mir aus einer alten Stola eines Protodiakons ein Epitrachelion, und meine Mutter machte mir eine Paliza. Irgendeinen Stoff verwendete ich als Obergewand – und „feierte Liturgie”. Zu meinem Vater kamen recht viele Menschen, die sich für die Kirche interessierten, vorwiegend Angehörige der Leningrader Intelligenz. Wir lebten damals sehr ärmlich: neben dem kleinen Zimmerchen, in dem sich die Bücher meines Vaters und sein Schreibtisch befanden, hatten wir noch ein 19 m² großes Wohnzimmer auf der Vassilij-Insel (für eine fünfköpfige Familie). In diesem Zimmer von 19 m2 spielte sich meine Kindheit ab, dort „zelebrierte“ ich.

Dort empfing mein Vater seine Besucher, darunter auch Männer, die sich auf die Priesterweihe vorbereiteten. Einer von ihnen war Alexander Rozhkov, Professor am Leningrader Konservatorium. Er kam regelmäßig zu meinem Vater, und sie führten abends lange Gespräche, dann begann mein Vater, ihn auf den priesterlichen Dienst vorzubereiten, und schließlich empfing Rozhkov die Priesterweihe. Eine andere Person dieser Art war Michail Nikolaevitsch Mudiugin (später Erzbischof Michail), Dozent des Berg-Instituts, der von meinem Vater „im Geheimen“ in Theologie und Liturgik unterrichtet wurde. Alexander Rozhkov, der künftige Vater Alexander, hatte Schwierigkeiten mit der Ordnung der Liturgie, er konnte sich einfach die Abfolge nicht merken. Einmal kam er vor der verabredeten Zeit zu uns nach Hause, als mein Vater noch nicht da war. Er fragte mich, was ich gerade machen wolle. Ich sagte, ich wolle jetzt gleich ein Totengedächtnis feiern. Er sagte: „O, das ist interessant, laß uns gemeinsam zelebrieren“. Ich begann das Totengedächtnis zu feiern – auswendig natürlich –, und er sang. Bei dieser Beschäftigung überraschte uns mein Vater. Der zukünftige Vater Alexander Rozhkov sagte zu meinem Vater: „Wenn ich die Abfolge so gut kennen würde wie Ihr Sohn, wäre ich glücklich“. An dieses Gespräch erinnere ich mich noch gut: damals war ich vier Jahre alt.

Sehr viel später, als junger Mann, entwickelte ich ein starkes Interesse für die exakten Wissenschaften, besonders für die Physik und in gewissem Grade auch für die Chemie. Ich war dabei sehr erfolgreich und gewann die Wettbewerbe in der Schule. Doch aufgrund der familiären Umstände, in erster Linie auf Grund der schwierigen materiellen Situation der Familie, mußte ich mit fünfzehn Jahren von zu Hause weggehen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Ich fand eine Arbeitsstelle bei einer geologischen Expedition. Danach zeigte sich bei mir der Wunsch, in die physikalische Fakultät der Leningrader Universität einzutreten. Und sicherlich hätte ich das auch getan, wenn ich nicht dem Metropoliten Nikodim begegnet wäre. Die Idee war folgende: Zuerst wollte ich mich um eine höhere weltliche Ausbildung bemühen, einige Erfahrungen in der wissenschaftlichen Arbeit sammeln und dann ins Geistliche Seminar eintreten. Um zu einer Entscheidung zu kommen, begab ich mich zu einem Gespräch mit dem kürzlich ernannten Leningrader Metropoliten Nikodim. Der Bischof sprach sich entschieden gegen mein Vorhaben aus und sagte, bei uns in der Sowjetunion gebe es genügend Physiker und Mathematiker, doch die Priester reichten nicht aus. Er gab sogar zu verstehen: Wenn ich jetzt in das Institut einträte, sei es nicht sicher, ob man mich anschließend in das Seminar aufnehmen würde. So verhinderte er mit Entschiedenheit, daß ich den Weg einschlug, der mir viel zweckmäßiger erschien. Und ich glaube, er hatte dreifach Recht. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre und wie sich mein Leben gestaltet hätte, wenn ich den genannten Weg gewählt hätte.

Wie war es denn überhaupt möglich, daß Sie von Metropolit Nikodim empfangen wurden?

Vom Leningrader Metropoliten empfangen zu werden, war sehr einfach. Bis Bischof Nikodim zu uns kam, lebten die Metropoliten sehr abgeschieden und hatten fast mit niemandem Umgang. Sogar den Empfang der Eparchie leitete nicht der Metropolit, sondern der Sekretär. Der damalige, langjährige Sekretär war Vater Sergij Rumjanzev.

Alles änderte sich, als Bischof Nikodim nach Leningrad kam. Damals studierte mein Bruder bereits an der Akademie  und erzählte mir, was für erstaunliche Dinge da vor sich gingen: der Metropolit empfinge jetzt Studenten und Lehrer, und eine Schlange von Menschen komme zu ihm. Damals kam mir und meinem Bruder der Gedanke, uns mit dem Bischof über meine Pläne zu beraten. Und mein Bruder organisierte die Begegnung: er wandte sich an die Kanzlei, und ein Termin wurde festgesetzt.

Ich erinnere mich noch gut, wie aufgeregt ich in der Vorbereitung auf diese Begegnung war: ich fuhr im Trolleybus den Nevskij Prospekt entlang auf die Seite der Alexander-Nevskij-Lavra und zählte mit klopfendem Herzen die Haltestellen. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich das Gebäude der Akademie betrat und dort Subdiakone mit ihren Koffern sah (entweder machten sie sich gerade auf den Weg zum Gottesdienst oder sie kamen von dort zurück), wie ich ein bescheidenes, winziges Arbeitszimmer betrat – es war das Arbeitszimmer des amtierenden Metropoliten (jetzt dient dieses Arbeitszimmer offenbar als Abstellraum). Die Verwaltung der Eparchie war damals in demselben Gebäude untergebracht wie die Geistliche Akademie, in der ersten Etage, weil sie einige Jahre vorher aus der Alexander-Nevskij-Lavra dorthin verlegt worden war und man der Kirche das wunderschöne alte Gebäude der Eparchieverwaltung weggenommen hatte. Deshalb hauste der Metropolit in diesem kleinen Abstellraum in der ersten Etage des Akademiegebäudes, und die Akademie selbst belegte nicht das ganze Gebäude, sondern nur einen Teil; den anderen Teil hatte das Unterrichtskombinat inne. In einer derartig schwierigen Situation lebte damals  die Kirche von Leningrad. So traf ich auch auf Bischof Nikodim. Und er beendete alle meine Überlegungen, wohin ich zum Studium gehen sollte, und forderte mich kategorisch auf, ins Seminar einzutreten, was ich dann auch tat. Das war im Jahre 1965.

Sie haben erwähnt, daß Ihre Familie damals sehr ärmlich lebte. Worauf war das zurückzuführen? Viele Priester in den fünfziger und sechziger Jahren lebten doch materiell recht gut gesichert?

Das lag an der Art und Weise, wie die Machthaber in der Sowjetunion der Nachkriegszeit den Kampf mit der Kirche führten. Es war so, daß zu dieser Zeit eine wohlwollende Haltung des Staates gegenüber der Kirche an den Tag gelegt wurde. Wie Sie sich erinnern, hatte sich Stalin im Jahre 1943 mit dem Metropoliten Sergij und anderen Mitgliedern des Synods getroffen, und Sergij wurde daraufhin zum Patriarchen gewählt. Im Jahre 1945 folgte ihm auf dem Patriarchenthron Alexij I. Man begann damit, Geistliche Schulen und Klöster zu eröffnen. Doch das atheistische Wesen des Staates änderte sich nicht, und der ideologische Kampf gegen die Religion wurde fortgesetzt. Und eine der Formen dieses Kampfes war der materielle Druck auf den Klerus. In Leningrad wurde eine ganze Kampagne insbesondere gegen viele Priester und ganze Gemeinden ausgelöst. Als Opfer wurden vor allem diejenigen Priester ausgewählt, die beim Volk beliebt waren. Von ihnen erhob die regionale Finanzabteilung eine Steuer, wobei eine astronomische Summe genannt wurde, die die realen Möglichkeiten des Priesters oder der Gemeinde um das fünfhundert- bis tausendfache überstieg. Die städtische Finanzabteilung wurde damals vom Sohn eines Priesters namens Mansvetov geleitet. Er war der Meinung, man müsse „die Popen mit dem Rubel niederdrücken“. Er nahm eine beliebige, d.h. aus der Luft gegriffene Summe und sagte zu diesem oder jenem Priester: „Ihr Jahreseinkommen beträgt so und so viel, Sie haben eine Steuer von 51 Prozent zu bezahlen“. Und der Priester war verpflichtet, diese 51 Prozent von seinem angeblichen Jahreseinkommen zu zahlen.

So wurde auch mein Vater zur regionalen Finanzabteilung bestellt, und ihm wurde gesagt, daß er eine gewisse phantastische Geldsumme erarbeitet habe und deshalb etwa 120’000 Rubel Steuer zahlen müsse; zu dieser Zeit war das eine unvorstellbar hohe Summe. Mein Vater hatte nicht die geringste Möglichkeit, eine solche Summe zu bezahlen. Es folgten Gerichtsverhandlungen, und mein Vater wurde zur Abzahlung der Schuld verurteilt. Unsere gesamte Habe wurde konfisziert, und wir lebten praktisch von dem, was uns die Leute brachten: der eine brachte Brot, ein anderer Mehl, ein weiterer einen Hering, wieder ein anderer Zucker. Mit meinem Vater hätte es schlimm ausgehen können, es hätte ihn einfach zerrissen, wenn er nicht bezahlt hätte. Und dann begannen seine Freunde und Bekannten – darunter auch die Leningrader Intelligenz, einige Professoren, Akademiker, Gelehrte, der eine oder andere Geistliche –, Geld zu sammeln, um diese Steuern zu bezahlen. Und man brachte das Geld tatsächlich zusammen. Doch mein Vater mußte sein ganzes weiteres Leben lang Schulden abbezahlen, und dann mußte auch ich die Schulden des Vaters abzahlen. Erst als ich – schon im Rang eines Archimandriten – als Vertreter des Moskauer Patriarchats nach Genf reiste, hörten die Abzahlungen auf. Meine Kindheit verlief daher unter äußerst eingeschränkten materiellen Bedingungen. Und ich danke Gott dafür, weil ich dadurch den priesterlichen Dienst niemals mit materiellem Wohlstand in Verbindung gebracht habe.

Was ist Ihnen von Ihren Studienjahren in den Leningrader Geistlichen Schulen in Erinnerung geblieben?

So wie die normalen Studenten habe ich praktisch nur ein halbes Jahr lang studiert. Dann rief mich Bischof Nikodim zu sich und sagte, ich solle sein Mitarbeiter werden, und bald ernannte er mich zu seinem persönlichen Sekretär. Mein ganzes weiteres Studium war mit dieser Arbeit als persönlicher Sekretär des Metropoliten verknüpft. Deshalb hatte ich keine Möglichkeit, systematisch Vorlesungen zu besuchen, ich besuchte sie in Auswahl und hörte nur die interessantesten Professoren und Lehrer. Darüber hinaus verlangte der Metropolit von mir, den Ausbildungszyklus schneller als vom Lehrplan vorgesehen abzuschließen. So hatte ich in einem Jahr zwei Studienjahre zu absolvieren. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht war, aber von den Studienjahren sind mir schlaflose Nächte in Erinnerung geblieben und die ständige Notwendigkeit, das nächste Examen ablegen oder die nächste Arbeit schrei­ben zu müssen. Es war eine sehr angespannte Zeit, weil auch die Arbeit als Sekretär viele Verpflichtungen mit sich brachte. Ich erinnere mich aber gut an die bemerkenswerten Vorlesungen von Professor Nikolai Dmitrievitsch Uspenskij, von Professor und Protopriester Johann Belevzev, Protopriester Liverij Voronov. Vater Liverij, unter dessen Leitung ich meine Kandidatenarbeit geschrieben habe, bin ich besonders dankbar.

Sie haben vorhin im Gespräch erwähnt, daß Ihnen in Aussicht gestellt wurde, Ihre Studien im Ausland fortzusetzen.

Ja, Metropolit Nikodim sagte zu mir: „Beende die Akademie schneller, weil dann für dich die Möglichkeit besteht, für eine wissenschaftliche Spezialisierung ins Ausland zu gehen“. Als ich fragte, wohin, gab er zur Antwort: „Wahrscheinlich nach Oxford“. Als Grund gab er an, daß es dort neben ausgezeichneten theologischen Ausbildungsmöglichkeiten auch eine sehr gute orthodoxe Gemeinde gebe. Doch als ich mit 24 Jahren die Akademie beendet hatte, wurde ich nicht zum Studium nach Oxford gesandt, sondern zur Arbeit nach Genf. Der Bischof fand auch dafür Argumente, er sagte: „Die nächste Generation wird in Oxford studieren, doch deine Generation muß arbeiten“. Diese Worte erwiesen sich als prophetisch.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Genfer Periode ihres kirchlichen Dienstes? Und welcher Art waren die Besonderheiten der Auslandstätigkeit der Kirche in der Sowjetzeit, als die Kirche unter der Kontrolle der Staatsmacht stand?

Es war eine sehr schwierige Periode. Einerseits war für den sowjetischen Staat eine kirchliche Tätigkeit im Ausland notwendig, weil diese indirekt bezeugte, daß es in unserem Land Religionsfreiheit gab. Die Logik war einfach: Wenn es Priester im Ausland gibt, bedeutet das, es gibt religiöses Leben, und wenn es religiöses Leben gibt, sind die Anschuldigungen unberechtigt, dieses Leben werde in Rußland unterdrückt. D.h. vom propagandistischen Standpunkt aus war es für die Regierung von Vorteil, wenn die Kirche die Möglichkeit bekam, Beziehungen zum Ausland zu knüpfen. Vom ideologischen Standpunkt aus war es allerdings überhaupt nicht vorteilhaft, denn es waren wirkliche Priester, die ins Ausland reisten, und keine unterschobenen Personen, es waren echte, keine verkleideten Theologen. Sie stellten Beziehungen zu ausländischen Kollegen her, und diese erfuhren von ihren Problemen, d.h. die christliche Öffentlichkeit der ganzen Welt erfuhr etwas über die Probleme der Russischen Kirche. Solche Kontakte stellten sicher, daß die Russische Orthodoxe Kirche vom Ausland her unterstützt wurde. Unsere kirchliche Tätigkeit im Ausland war in diesen Jahren eine Art Rettungsring, der die ganze Kirche über Wasser hielt, weil es unter den Bedingungen der Isolation von der Welt und fehlender Informationen über die Vorgänge im eigenen Lande leicht war, die Kirche zu versenken. Doch nachdem die Vertreter der Kirche im Ausland einen weitreichenden Kreis von Beziehungen geknüpft hatten, war es nicht mehr möglich, die Kirche einfach so zu liquidieren. Deshalb haben einerseits die Machthaber natürlich etwas gewonnen, andererseits aber, wie gesagt, ideologisch verloren. Und ich meine, daß die Verfolgungen, die durch Chruschtschov ausgelöst wurden, sich in vieler Hinsicht gerade deshalb als unwirksam erwiesen und letztlich im Sande verliefen, weil es eine hinreichend breite internationale Unterstützung der Russischen Kirche gab, was damals wahrscheinlich ausschlaggebend dafür war, daß den Verfolgern Einhalt geboten wurde.

Womit aber mußte die Möglichkeit für Kontakte zu ausländischen Christen erkauft werden? Heute wird immer noch behauptet, daß kirchliche Mitarbeiter für geheimdienstliche Arbeiten angeworben und sogar Atheisten in die Kirche eingeschleust worden seien ...

Im kirchlichen Leben in Moskau gab es Gerüchte über zwei oder drei Priester – es hieß, sie seien von außen eingeschleust worden. Die Moskauer Geistlichkeit kannte diese Leute jedoch gut, alle wußten, daß diese eben auf solche Weise in das kirchliche Leben „eingeführt“ worden waren. Der Herr fügte es so, daß nicht einer von ihnen eine wirkliche Rolle im Leben der Kirche spielte. Zwei von ihnen verließen, soweit ich mich erinnere, die Kirche ganz, einer arbeitete sogar im Rat für religiöse Angelegenheiten. Alle kannten ihn gut, und in den letzten Jahren verhehlte er nicht, daß er einmal Abt gewesen war. Doch ich wiederhole, das waren Einzelfälle.

Worin liegt der Grund, daß es nicht gelang, in der Kirche Leute von außen einzuschleusen? Weil das außerordentlich schwer zu bewerkstelligen war. Man kann jemanden in den Bereich der Wissenschaft einschleusen, obwohl auch das nicht einfach ist: Um sich in der Wissenschaft zurechtzufinden, muß man sich in dem einen oder anderen Bereich gut auskennen. Man kann jemanden in den Bereich des Sports einschleusen, aber auch das ist schwierig: Der Betreffende muß ein Sportler sein. Doch jemanden in die Geistlichkeit einzuschleusen, ist unglaublich schwer, denn wer der Kirche als Priester dient, muß nicht nur professionelle Fertigkeiten besitzen, sondern auch seiner Lebens- und Denkform nach ein Priester sein. Einen weltlichen Menschen – noch dazu einen Spion – in einen Priester zu verwandeln, ist praktisch unmöglich. Immer wird sichtbar sein, daß es sich nicht um einen wirklichen Priester handelt. Und so war es auch. Die Leute wußten, wer ein echter und wer ein angeblicher Priester war. Daher denke ich, daß die in die Kirche eingeschleusten Atheisten eine Erscheinung von so mikroskopischem – ich würde sogar sagen: exotischem – Ausmaß waren, daß man sie nur als Ausnahme, als Randerscheinung im Leben der Kirche in Erinnerung behalten kann.

Was die Unterwerfung der Kirche unter die Kontrolle des Staates betrifft, so war diese natürlich erheblich. Die Kirche war dem Marxismus ideologisch diametral entgegengesetzt, die Kirche teilte die Ideologie der herrschenden Partei nicht, und in diesem Sinne stellte sie natürlich eine Bedrohung für die Machthaber dar und stand deshalb unter besonderer Beobachtung. Und die kirchlichen Mitarbeiter durften dem Staat keinen Anlaß für die Beschuldigung geben, die Kirche, weil ideologisch von der Partei und von der Gesellschaft verschieden, sei eine politische Gegnerin des Systems. Wenn es gelungen wäre, der Kirche politische Vergehen gegenüber der damaligen Staatsmacht nachzuweisen, dann würde sie mit Sicherheit nicht mehr existieren, dann wäre man mit ihr umgegangen wie mit der politischen Opposition. Deshalb mußte ein Priester, besonders wenn er im kirchlich-diplomatischen Dienst stand, dem Staat gegenüber loyal bleiben. Ohne diese Loyalität wäre nicht nur dieser Priester selbst Repressionen ausgesetzt gewesen, sondern er hätte eine Welle von Repressionen gegen andere hervorrufen können.

Auf welche Weise war es denn möglich, mit Hilfe ausländischer Kontakte die Probleme der Kirche zu lösen?

Solche Kontakte halfen uns manchmal sogar, Menschen aus der Gefangenschaft zu befreien. Wie Sie wissen, gerieten damals mehrere Dissidenten wegen ihrer religiösen Tätigkeit ins Gefängnis. Wir, die wir im Weltrat der Kirchen arbeiteten, trugen dazu bei, daß einige dieser Menschen die Freiheit wieder erlangten, und zwar durch einen entsprechenden Druck auf die Staatsmacht. Einige der ehemaligen Gefangenen kritisieren uns jetzt und stehen dem Moskauer Patriarchat grundsätzlich ablehnend gegenüber, deshalb werde ich hier ihre Namen nicht nennen und nicht berichten, wie wir an ihrer Befreiung mitgewirkt haben. Ich bedauere sehr, daß diese Menschen heute außerhalb der Kirche stehen und zu denen gehören, die gegen die Kirche auftreten. Doch niemals habe ich auch nur für eine Minute bedauert, mich um ihre Freilassung bemüht zu haben.

Als Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche beim Weltrat der Kirchen hatte ich die Möglichkeit, nach Moskau zu fahren, den Rat für religiöse Angelegenheit zu besuchen und über die Haltungen der weltweiten christlichen Öffentlichkeit zu berichten. Ich habe aktiv den Gedanken vorgebracht, daß Repressionen gegen einzelne Persönlichkeiten für das Prestige unseres Landes ein außerordentlich ungünstiger Faktor seien. Es war mir möglich, nicht nur entsprechende Erklärungen abzugeben, sondern auch Beweise zu erbringen, weil ich in einem breiten Austausch mit sehr bekannten Personen aus der christlichen wie aus der diplomatischen Welt stand.

Es kam vor, daß unsere ausländischen Partner ihre Besorgnis in Bezug auf das eine oder andere Problem äußerten, und dann brachte ich dies bei meiner Rückkehr den zuständigen Regierungsbeamten zur Kenntnis. Doch nicht selten war es auch so, daß unsere Mitbrüder im Ausland gewisse himmelschreiende Probleme in der Sowjetunion gar nicht beachteten. Dann war es an uns, sie darauf hinzuweisen, damit sie offizielle Erklärungen abgaben, die wir dann unseren Machthabern übergeben konnten. Niemals werde ich vergessen, wie lange wir für die Öffnung der Kirche in Nizhnij Novgorod gekämpft haben. Dort gab es zu Sowjetzeiten am Stadtrand nur eine Kirche. Die Menschen gerieten während des Gottesdienstes in Atemnot und fielen in Ohnmacht. Und so führten wir lange Jahre hindurch einen Kampf, um in dieser Stadt noch ein weitere Kirche zu eröffnen. Den Staatsorganen gegenüber wiesen wir darauf hin, daß die christliche Weltöffentlichkeit das Fehlen einer zweiten Kirche an diesem Ort sehr mißbilligend aufnehme.

Im Alter von 28 Jahren sind Sie Rektor der Leningrader Geistlichen Hochschulen geworden und haben diese Stelle genau zehn Jahre innegehabt. Als ich vor kurzem in der St. Petersburger Akademie war, hörte ich bei Gesprächen mit einigen Lehrern der älteren Generation Äußerungen, in denen die Zeit Ihres Rektorats als das „goldene Zeitalter“ dieser geistlichen Ausbildungsstätten bezeichnet wurde. Und doch werden das Ende der siebziger und der Anfang der achtziger Jahre normalerweise als Zeit der Stagnation angesehen.

Ja, diese Jahre gelten üblicherweise als Phase der Stagnation, für uns aber war es eine Zeit stürmischer Entwicklung. Erstens verwandelten sich Seminar und Akademie aus einer vergleichsweise kleinen Schule (als ich 1974 Rektor wurde, studierten im Seminar und in der Akademie insgesamt etwa 130 Studenten) in eine der größten Ausbildungsstätten (als ich die Schule 1984 verließ, gab es dort etwa 400 Studenten). Und doch ging dieser Wandel nicht in den Zeiten der Perestrojka vor sich, sondern gerade in der Phase der „Stagnation“, in der sowjetischen Periode. Ungefähr 25% aller Studenten besaßen eine höhere Bildung, d.h. sie hatten Universitäts- und Hochschulabschlüsse.

In diesen Jahren taten wir etwas, was es in der Russischen Kirche noch nie gegeben hatte – wir gaben Frauen die Möglichkeit, eine theologische Ausbildung zu erhalten, anfangs durch die Eröffnung der sogenannten Dirigenten-Abteilung, dann durch den Einbezug theologischer Disziplinen in das Ausbildungsprogramm für junge Frauen. Damals fragten mich viele: „Wozu macht ihr das?“ Ich gab zur Antwort: „Es wird die Zeit kommen, in der diese Dirigentinnen nicht nur die Kirchenchöre leiten, sondern auch Religionsunterricht an den Schulen erteilen werden.” Viele meiner Gesprächspartner tippten sich nach einer solchen Erklärung nur vielsagend an die Stirn: niemand glaubte an eine solche Möglichkeit. Doch ich habe immer gewusst, daß das eines Tages möglich sein würde.

Außerdem gab es natürlich hinreichend breite internationale Kontakte. Zu uns kamen Professoren aus dem Ausland, und wir waren bestrebt, unsere Studenten – die besten Absolventen der Akademie – zur Weiterbildung ins Ausland zu schicken. Das wissenschaftliche und pädagogische Niveau stieg beträchtlich an. Doch das vielleicht Bemerkenswerteste war das liturgische Leben unserer Geistlichen Hochschulen. Wir fühlten uns wirklich als eine einzige christliche Familie, als eine christliche Gemeinschaft. Bemerkenswert waren die sonntäglichen Gottesdienste, drei Chöre sangen die Liturgie, ein gemischter Chor und zwei Männerchöre. Jene, die zum Mönchsstand gehörten, Lehrer wie Studenten, sangen den Akathist. Danach hielt ich thematische Vorträge mit anschließender Aussprache. Übrigens habe ich mich bei der Vorbereitung der Sendung „Das Hir­tenwort“, die ich seit 1994 im Fernsehen gestalte, während der ersten zwei Jahre, von 1994 bis 1996, auf meine alten Aufzeichnungen gestützt – auf die Notizen, die ich mir zur Vorbereitung dieser Diskussionsveranstaltungen in der Leningrader Geistlichen Akademie gemacht hatte.

Man muß sagen, daß all das damals von einer ungeheuren Freude begleitet war, die Leute arbeiteten mit großem Enthusiasmus. Und in meinem Herzen trage ich eine große Dankbarkeit den vielen Professoren und Dozenten gegenüber, die sich damals Seite an Seite mit mir abgemüht haben und ohne die ich natürlich überhaupt nichts hätte ausrichten können. Es war das Ergebnis gemeinschaftlicher Bemühungen.

Aus welchem Grund sind Sie dann aber vom Amt des Rektors der Leningrader Geistlichen Hochschulen in die Smolensker Eparchie übergewechselt?

Den eigentlichen Grund dafür habe ich erst vor ganz kurzer Zeit, im Jahre 2001, erfahren. In der zweiten Nummer der Zeitschrift „Smolensk“ antwortet der frühere KGB-Vorsitzende von Smolensk auf die Frage irgendeines Lesers nach den Gründen meiner Versetzung aus Leningrad nach Smolensk zu einer Zeit, als der Staat das kirchliche Leben kontrollierte. Und dieser hochgestellte KGB-Führer erzählt (ich glaube, er sagt die Wahrheit), daß die Leningrader KGB-Leitung damals an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ein Telegramm richtete mit der Bitte, mich meines Amtes zu entheben und mich wegen meiner gesteigerten Aktivität irgendwo anders hinzuschicken. Dieses Telegramm unterschrieb kein geringerer als Oleg Kalugin, der damals das Amt des Leiters des Leningrader KGB innehatte.

Auf welche Weise vollzog sich dann die Wiederbelebung des kirchlichen Lebens in der Smolensker Eparchie?

Am 17. Januar 1985 kam ich in der Eparchie an. Gut erinnere ich mich an diesen frostigen Tag. In der Eparchie gab es damals 35 Kirchen, hauptsächlich auf dem Lande, d.h. dort, wo es faktisch keine Gemeinden gab. Die Mehrzahl der Kirchen war in einem verfallenenen Zustand, weil in der gesamten Nachkriegszeit keine Reparaturen durchgeführt wor­den waren. Die Aufgabe lag darin, zunächst die vorhandenen Kirchen wiederherzustellen, und in der ersten Phase meiner Arbeit ging es darum, diese Dorfkirchen zu restaurieren und zu reparieren. Dazu brauchte man Geld, und Geld hatten die Gemeinden nicht. Einer reichen Gemeinde war es damals vom Gesetz her nicht erlaubt, den armen Gemeinden zu helfen, und die Eparchie konnte nicht helfen; daher mußten zunächst irgendwelche Finanzen zusammengetragen werden. Und mir oblag es, unter einem gewissen Risiko solche Gelder zu beschaffen – das, was man heute als „schwar­ze Kasse“ bezeichnet und was ich lieber als „Kasse zur gegenseitigen Hilfe“ bezeichnen möchte. Die Priester sammelten irgendwelche Mittel, übergaben sie mir, und diese Gelder wurden zur Wiederherstellung der Kirchen verwendet. Wir taten alles so, daß die staatliche Stellen nichts davon erfuhren, weil derartige Tätigkeiten gesetzlich untersagt waren. Im Ergebnis wurden fast alle Kirchen wiederhergestellt.

In diese Periode fällt auch die Eröffnung einer geistlichen Fachhochschule. Es war die erste geistliche Ausbildungsstätte, die in der Sowjetunion neu eröffnet wurde. Praktisch begannen wir 1988 dort zu unterrichten, offiziell wurde die Lehranstalt 1989 eröffnet. Später wurde sie in ein Geistliches Seminar umgewandelt.

Seit 1985 begannen wir, neue Kirchen zu öffnen. Im Jahr 1985 errichteten wir eine Pfarrgemeinde in Kaliningrad, 1986 in Jarzevo, und von da an wurden jedes Jahr neue Kirchen und Pfarrgemeinden eröffnet. Das alles geschah vor dem Jahr 1988, d.h. vor dem Moment des realen Wandels in der Russischen Orthodoxen Kirche. Aber die meisten Pfarrgemeinden wurden natürlich zu Beginn der neunziger Jahre eröffnet.

Gegenwärtig bauen wir Kirchen und stellen halb zerfallene kirchliche Gebäude wieder her. Der Umfang der Bauarbeiten ist sehr groß, insgesamt bauen und restaurieren wir zur Zeit 60 Kirchen (das ist mehr als ein Drittel aller Pfarrgemeinden, da es in der Eparchie insgesamt 160 Kirchen gibt). Doch das Wichtigste ist natürlich die Frage der Ausbildung, denn man kann Kirchen errichten, aber es ist ungewiß, ob sie auch von den Menschen besucht werden. Deshalb habe ich es immer als meine Hauptaufgabe angesehen, ein religiöses Bildungswesen zu schaffen. Zu diesem Zweck haben wir schon recht früh ein Netz von Sonntagsschulen aufgebaut, und recht früh, schon vor vielen Jahren, in den allgemeinbildenden Schulen Unterricht über die Grundlagen der Orthodoxie eingeführt. Außerdem haben wir zwei orthodoxe Gymnasien und zwei Kindergärten errichtet. All das gibt uns die Möglichkeit zur Ausbildung der Jugend. Die Früchte stehen bereits vor Augen: in Smolensk besuchen viele Kinder und Jugendliche den Gottesdienst.

Seit vielen Jahren nehmen Sie an der ökumenischen Bewegung teil, Sie waren Mitglied im Exekutivkomitee und im Zentralkomitee des Weltkirchenrates. Worin bestand, Ihrer Meinung nach, der Sinn der innerchristlichen Kontakte der Russischen Orthodoxen Kirche in der Sowjetzeit, und welche Perspektiven bieten diese Kontakte heute?

Erstens meine ich, daß die Idee des Dialogs selbst zum Wesen des Christentums gehört. Wir haben kein Recht, uns dem Gespräch mit anderen zu verweigern, schon gar nicht mit Menschen, die sich als Christen verstehen. Die zentrale Idee des Christentums ist die Idee der Liebe, der wirksamen Liebe. Wenn wir kraft unserer christlichen Berufung verpflichtet sind, Nächstenliebe zu erweisen, wie können wir sie dann denjenigen nicht erweisen, die sich ebenfalls als Christen bezeichnen, auch wenn sie sich von uns durch andere theologische Auffassungen unterscheiden?

Zweitens ist die Tragödie der Spaltung der Christenheit ein großer Anstoß für die ganze Welt, und deshalb haben wir kein Recht, uns dem Problem der Suche nach der christlichen Einheit zu entziehen. Man kann sich vorstellen, wie die Welt aussehen würde, wenn es in ihr eine geeinte, starke christliche Kirche gäbe. Stellen Sie sich vor, es gäbe eine einzige Kirche in Rußland, Amerika, Deutschland, China, Indien und Australien. In welcher Lage wäre dann die Christenheit in der Welt? In welcher Verfassung befände sich dann die mensch­liche Zivilisation? Ich denke, wir hätten eine völlig andere Situation im Vergleich zu dem, was wir jetzt sehen. Eine geeinte Kirche könnte sich nicht in der Weise aus dem Leben der heutigen Gesellschaft zurückziehen, wie es heute viele christliche Denominationen tun, besonders im Westen, wo das Christentum unter dem Ansturm des Säkularismus verdrängt wird. Wobei gesagt werden muß, daß es auch bei uns Kräfte gibt, die mit Vergnügen die Kirche aus dem gesellschaftlichen Leben hinausdrängen würden. Unsere Mißerfolge – die historischen Mißerfolge auf der Ebene des Einflusses auf die Entwicklung der mensch­lichen Zivilisation – sind in erheblichem Maße durch das Faktum der Spaltung bedingt.

Letztlich ist die Spaltung der Christen eine große Sünde, eine der Tragödien in der Geschichte der Mensch­heit. Und deshalb ist die Idee, diese Spaltung aufzuheben und zu überwinden, ein bedeutsamer und großer Gedanke, der sehr viele Christen beseelt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, daß diese Idee nicht inspirierend sein könnte.

Und doch gibt es viele Menschen, die dieser Gedanke nicht nur nicht begeistert, sondern im Gegenteil schockiert und abschreckt. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben dem Kampf gegen diese Idee widmen.

Ich glaube, daß das in erster Linie aus Unwissenheit hervorgeht. Um das Thema des innerchristlichen Dialogs bilden sich viele Mythen; künstlich wird das Gefühl einer Gefahr hervorgerufen, die angeblich von solchen Kontakten mit Andersgläubigen ausgeht. Viele orthodoxe Christen halten die Teilnahme am Dialog mit Andersgläubigen für eine Art potentielle Gefahr für ihre eigene Identität. Manche vermuten, daß sich hinter diesem Dialog irgendwelche unguten Absichten, eine Art doppelte Buchführung, eine verborgene Tagesordnung, eine geheime Absicht verberge, die nicht deklariert und nicht aufgedeckt wird. Und das Vorliegen solcher Verdächtigungen wird von bestimmten politischen Kräfte benutzt, um entsprechende Gefühle der Furcht zu schüren und vor allem die Kirchenleitung zu diskreditieren. Die Politisierung dieses Themas ist äußerst gefährlich. Ich hoffe, daß das Bischöfliche Jubiläumskonzil des Jahres 2000 den Diskussionen zum genannten Thema ein Ende gesetzt hat, indem ein Dokument über die Beziehung zu den Andersgläubigen angenommen wurde. Gebe Gott, daß es wirklich so sei.

Unser Volk beginnt jetzt zu verstehen, daß im innerchristlichen Dialog nicht Schlech­tes liegt­. Wir Orthodoxe leben ja hier in Rußland Seite an Seite mit Christen anderer Konfessionen, wir haben die Mehrzahl der Probleme gemeinsam. Weshalb also versuchen wir nicht, diese Probleme gemeinsam zu lösen und damit unserer weltlichen, nicht-kirchlichen Gesellschaft zu beweisen, daß wir mit einer Stimme zu reden vermögen?

Ich bin der Meinung, daß das Streben nach Einheit im Wesen der Kirche selbst liegt. Schon der hl. Ignatius von Antiochien hat in seinem Brief an Polykarp von Smyrna geschrieben: „Strebe nach der kirchlichen Einheit, etwas Größeres gibt es nicht“. Das bedeutet, daß die Sorge um die kirchliche Einheit für den bischöflichen Dienst Priorität besitzt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß diese Worte sich auch an uns richten. Wenn wir an der Spaltung Anstoß nehmen, ist es unsere Pflicht, deren Überwindung anzustreben. Nehmen wir zum Beispiel die Trennungen und Spaltungen in der Ukraine. Ist nicht das Bestreben, sie zu überwinden, unsere erste und unmittelbare Pflicht? In der Russischen Kirche besteht schon seit einigen Jahrhunderten die Abspaltung der Altgläubigen. Können wir etwa sagen, daß uns das nicht betrifft, daß das „Angelegenheiten längst vergangener Tage“ seien und daß diese Frage von der Tagesordnung gestrichen sei? Das Gleiche gilt für die Spaltung der Christen in Ost und West. Die Folgen dieser tragischen Trennung, die sich im elften Jahrhundert vollzog, sind auch heute spürbar, fast tausend Jahre später. Kann man etwa sagen: Das geht uns nichts an? Natürlich geht uns das etwas an, schon deshalb, weil das Vertrauen in das Christentum selbst bei Nicht-Glaubenden und Vertretern anderer Religionen dadurch untergraben wird. Die Spaltung der Christenheit ist für viele Nichtchristen ein Beweis für die Schwäche der christlichen Kirche, für ihre Unfähigkeit, die Menschen zur Einheit zu verbinden. Deshalb ist die Überwindung der Trennung nicht nur eine Aufgabe vor uns selbst, sondern auch vor dem Angesicht der säkularen Welt und der Vertreter anderer Religionen.

Inzwischen sind schon mehr als elf Jahre vergangen, seit Sie im Jahre 1989 die Leitung des kirchlichen Außenamtes übernommen haben. Welche Erinnerungen haben sie an diese Periode, worin bestand Ihre Arbeit als Leiter dieser Abteilung in dieser Übergangszeit der russischen Geschichte?

Es war eine sehr schwierige Periode. Der glücklichste Abschnitt meines Lebens, war die Zeit als Rektor in der St. Petersburger Geistlichen Akademie. Die Arbeit auf der Stelle des Vorsitzenden dieser Abteilung war die schwierigste Periode, weil es mir in diesen Jahren zufiel, hineingezogen zu sein in die Entscheidung über nicht einfach nur sehr wichtige, sondern, ich möchte sagen, schicksalhafte Fragen für die Kirche wie auch für unsere Gesellschaft. Die Lösung dieser Fragen verlief niemals ruhig, sie war stets begleitet von Kampf und Spannung, und das ist eine enorme Belastung für die mensch­liche Natur. Doch andererseits war es auch eine gesegnete Zeit für mich, weil mit Sicherheit kein anderer Zeitabschnitt einen so starken Einfluß auf meine Persönlichkeitsbildung hatte wie diese letzten elf Jahre.

Die Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen ist eine große Einrichtung, in der hochqualifizierte Personen arbeiten, die eine hochbezahlte Arbeit in vielen weltlichen Einrichtungen finden könnten. In den letzten Jahren mußte viel über die materielle Versorgung der Mitarbeiter nachgedacht werden, was nicht so einfach ist angesichts der ständigen Finanzkrisen im Lande. Doch außerdem mußte auch überlegt werden, wie diese Einrichtung handlungsfähiger werden konnte. Sie war ja in der Sowjetzeit geschaffen worden und schrieb sich in das damals bestehende System bürokratischer Werte ein. Das bedeutet, die Abteilung mußte von innen her radikal reformiert werden, um diejenigen Aufgaben zu bewältigen, die die Gesellschaft der Kirche heute stellt.

Das alles – die innere Restrukturierung, die Auswahl der Führungskräfte, ihre Ausbildung und Vorbereitung, die finanzielle Versorgung usw. – zähle ich zu den technischen Aufgaben, obwohl es natürlich mehr ist als einfach nur „Technik“, wenn es um Schicksale und um Menschen geht. Doch es erhebt sich die Frage: der Ablauf ist richtig organisiert, die Führungskräfte sind ausgewählt, die Arbeit ist geregelt, aber in wessen Namen erfolgt der Ablauf selbst, wozu geschieht das alles?

In der Periode der ungeheuren Umgestaltungen im Leben des Landes bestand unsere Hauptaufgabe darin, der Kirche zu helfen, ein neues Modell für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat zu schaffen. Erstmals war die Kirche wirklich frei, und es war unbedingt nötig, ein Fundament für den Aufbau der Beziehungen zwischen einer freien Kirche und einem Staat zu errichten, der demokratische Prinzipien ausruft. Ich danke Gott, daß wir in dieser Periode, so weit es in unseren Kräften stand, Seiner Heiligkeit dem Patriarchen bei der Bewältigung dieser enormen historischen Aufgabe helfen konnten. Vieles wurde getan. Der abschließende Schritt war die Annahme des Dokumentes „Grund­lagen der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche“ auf dem bischöflichen Jubiläumskonzil. Wenn über die gegenseitigen Beziehungen zwischen Kirche und Staat gesprochen wird, so entstanden die entsprechenden Abschnitte der „Grundlagen der Sozialkonzeption” nicht auf Grund der Bearbeitung von irgendwelchem historischem Material oder irgendwelcher theoretischer Konstruktionen. Sie entstanden dank der Verallgemeinerung derjenigen Erfahrung, die wir in den letzten zehn Jahren gemacht haben und die sich in den Materialien der vorausgehenden Konzilien und Sitzungen des Heiligen Synods widerspiegelte.

Die zweite wesentliche Aufgabe bestand darin, die Einheit unserer Kirche zu wahren. Die separatistischen Tendenzen, die mit dem Zerfall der Sowjetunion aufkamen, hatten eine ganz unmittelbare Rückwirkung auf das Leben der Kirche. Nicht alle Abspaltungen konnten rechtzeitig abgewandt werden, einige Vorgänge überschreiten nicht nur den Rahmen der Möglichkeiten der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen, sondern gehen sogar über die Grenzen der Möglichkeiten der gesamten Kirche hinaus: ich habe in erster Linie die Vorgänge im Blick, die in der Ukraine und in Estland ablaufen. Und dennoch scheint mir, wenn nicht die Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen an der Lösung einer Reihe von Fragen mitgewirkt hätte, dann wäre alles noch weitaus dramatischer verlaufen.

Ich möchte auch etwas zu dem Platz der Kirche in der Gesellschaft sagen, zum Bild der Kirche. Praktisch jede Woche, ja täglich finden irgendwelche Konferenzen, Seminare, Rundgespräche statt, bei denen die Position der Kirche zu den verschiedensten Fragen vorgestellt wird. Das formt auch das Bild der Kirche in der Gesellschaft. Die Menschen hören die Position der Kirche, können sie mit ihrem eigenen Standpunkt vergleichen und sehen, daß diese Position in vieler Hinsicht vernünftig ist und den Interessen des Volkes entspricht. So entsteht eine Wertschätzung für die kirchliche Position, und das bedeutet auch eine Wertschätzung für die Kirche als gesellschaftliche Einrichtung. Ohne uns mit irgendwelchen politischen Kräften zu identifizieren, beziehen wir selbständig Stellung zu den wichtigsten Problemen der Gegenwart. Und ich denke, in vieler Hinsicht hing das Bild der Kirche, das sich heute herausgebildet hat, von der Arbeit der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen ab, obwohl ich keinesfalls behaupten möchte, es sei ganz und gar und vollständig das Resultat unserer Arbeit: die ganze Kirche unter der Leitung Seiner Heiligkeit, des Patriarchen, wirkte daran mit. Doch für unseren Teil haben wir alles uns Mögliche getan, damit der Ort der Kirche in unserer Gesellschaft sich wandelt. Angefangen haben wir ja in einer Situation, wie sie in den Zeiten der Sowjetunion herrschte, als die Kirche praktisch außer­halb des öffentlichen Lebens stand, künstlich von der Gesellschaft isoliert war. Dann durchliefen wir die schwierige Periode von 1991 bis 1993, als die Kirche zur Zielscheibe für Angriffe wurde und bestimmte politische Kräfte innerhalb des Landes die Kirche zu einer der imperialistischen Strukturen erklärten, die die gesellschaftliche Entwicklung behindern. Weder in der Sowjetzeit noch zu Beginn der neunziger Jahre waren zum Beispiel politische Analysen durch kirchliche Mitarbeiter möglich. Inzwischen hat sich alles geändert und ändert sich weiterhin zum Besseren.

Eine weitere wichtige Aufgabe des Außenamtes ist und bleibt der Aufbau von Beziehungen zur nichtchristlichen Welt, in erster Linie zum Islam. In letzter Zeit sind in diesen Beziehungen merkliche Veränderungen zum Besseren zu verzeichnen. Wir verfügen über ein ganzes System der Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen und mit Vertretern der islamischen Geistlichkeit. Wir sind der Auffassung, daß dies für Rußland außerordentlich wichtig ist, doch nicht nur für Rußland, sondern auch für viele andere Länder. Der Dialog mit dem Islam ist eine der Prioritäten für die Christenheit des dritten Jahrtausend, und wir verstehen das sehr gut.

Schließlich gehören auch die Beziehungen zu den nichtorthodoxen Christen, von denen ich schon gesprochen habe, zum Kreis der Verantwortung der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen. Gar nicht einfach sind heute für uns die Beziehungen zur zur Katholischen Kirche, zu einigen protestantischen Kirchen, besonders zu jenen, die auf dem Territorium Rußlands Proselytismus betreiben. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, unser Volk vor den proselytischen Bestrebungen unerbetener Missionare und Prediger zu schützen. Mit denen aber, die mit uns zusammenzuarbeiten bereit sind, arbeiten wir auch zusammen, und als Resultat dieser Zusammenarbeit werden soziale, humanitäre und bildungsfördernde Programme entwickelt. Wir halten das für einen äußerst wichtigen Faktor und werden diese Art von Zusammenarbeit auch weiterhin entfalten.

Ich möchte noch einmal auf das zurückkommen, was ich schon mehrfach sagen mußte: Die Russische Kirche kann sich nicht selbst isolieren, sich nicht durch eine undurchlässige Mauer von der Gesellschaft, von anderen Religionen, von anderen christlichen Konfessionen abgrenzen. Wir müssen uns fragen: Kann Rußland überhaupt in einer Isolation von der Welt existieren? Kann es aus der Organisation der Vereinten Nationen austreten? Kann es aufhören, bilaterale Dialoge mit anderen Ländern zu führen? Seine Feinde treiben es dazu an, aber Rußland wird niemals darauf eingehen, sonst würde es jeden Einfluß verlieren. Dasselbe läßt sich für die Kirche sagen. Die Russische Kirche ist eine große Kirche, und sie kann nicht aus den internationalen Organisationen austreten, sie kann die bilateralen Beziehungen nicht abbrechen, sie kann sich nicht in die Isolation zurückziehen. Die Feinde der Kirche drängen sie zu derartigen Entscheidungen, doch diesen Stimmen darf man nicht nachgeben. Die Kirche muß für alle offen sein, sie muß im Dialog mit allen Menschen guten Willens sein. „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten“ – dieses vom Apostel Paulus formulierte Prinzip (1 Kor 9, 20) läßt sich anwenden auf jeden einzelnen Christen und auch auf die Kirche im Ganzen.

Ich danke Ihnen, Eminenz, für das Gespräch. Erlauben Sie mir, Ihnen im Namen der Redaktion der Zeitschrift „Kirche und Zeit“ zum 25jährigen Jubiläum Ihres Dienstes als Erzbischof zu gratulieren und Ihnen Gesundheit, geistliche Kraft und noch viele Jahre im Dienst für das Wohl der Kirche Christi zu wünschen.

Das Gespräch führte Igumen Hilarion (Alfeyev).


4 Bewegung der Erneuerer des alten Ritus, A. d. Ü.
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