Russland konnte in dem Konflikt zwischen Konstantinopel und Bulgaren nicht teilnahmslos bleiben. Obwohl es mit der bulgarischen Volksbewegung sympathisierte, hielt es zugleich eine Unterstützung des Kampfes gegen das Patriarchat von Konstantinopel für unmöglich, denn der russischen Nahostpolitik lag das Prinzip der Einheit der Orthodoxie zugrunde. Nach den Ereignissen in Konstantinopel 1866 begann die russische Diplomatie eine aktive Suche nach einer versöhnlichen Lösung der bulgarischen Kirchenfrage. Graf Ignatjew, der russische Gesandte in Konstantinopel (1864–1877), erbat mehrmals entsprechende Direktiven vom Heiligsten Synod; doch die oberste Leitung der ROK enthielt sich definitiver Aussagen, da der Patriarch von Konstantinopel und dasÖkumenische Patriarchatkeinerlei Anfragen an sie gerichtet hatten. In einem Antwortschreiben vom 19. April 1869 an den Patriarchen von Konstantinopel, Gregor VI., äußerte der Heiligste Synod die Meinung, dass beide Parteien bis zu einem gewissen Grad – sowohl Konstantinopel, das die kirchliche Einheit aufrechterhalten wollte, als auch die Bulgaren, welche legitimerweise eine eigene nationale Hierarchie anstreben - Recht hätten.[1]
Patriarch Gregor VI., einer der hervorragendsten Hierarchen des 19. Jahrhunderts, versuchte aktiv, die befeindenden Parteien zu versöhnen. Im Mai 1867 schlug er den Bulgaren einen Kompromiss vor, das maximale Zugeständnisse der griechischen Partei enthielt. Doch weder hätte dieser Vorschlag das Problem der gemischten Diözesen gelöst, noch wurde er von den radikalen bulgarischen Führern akzeptiert[2].
Die russische Botschaft organisierte mehrmals griechisch-bulgarische Verhandlungen, doch führten diese Versuche wegen der Gegensätzlichkeit der Positionen zu nichts.
Zwar standen die Verhandlungen 1869 kurz vor dem Durchbruch, aber der Patriarch konnte sich nicht entschließen, der Loslösung der Bulgarischen Kirche zuzustimmen. Schließlich wurde am 27. Februar 1870 seitens der türkischen Regierung auf Grundlage der fast abgeschlossenen Verhandlungen der berühmte Ferman verabschiedet, welcher die Bulgarische Exarchie begründete.[3]
Wie es dazu kam, können wir aus einem Brief von Ignatjew an Nayden Gerow, Vizekonsul in Plowdiw erfahren:
„Gnädiger Herr Nayden Gerowitsch! In Ihrem Bericht№ 49 vom 8. Juli 1870 teilen Sie mir von Auslegungen mit, die in der bulgarischen Bevölkerung von Philippopolis durch das Erscheinen des Fermans zum kirchlich-bulgarischen Problem angeregt wurden.
Wenn Sie mit der Angelegenheit vertraut sind, wird es Ihnen nicht schwerfallen, die Bedenken unserer Glaubensgenossen bezüglich der Ursachen, die die türkische Regierung zur Verabschiedung des Fermans bewegten, zu zerstreuen. Ihnen ist wohl bekannt, dass die Bulgaren diesen Verwaltungsakt, in dem sie zu Recht den Keim ihrer zukünftigen Unabhängigkeit sehen, nur unserem unablässigen Drängen gegenüber Ali Pascha, den wir auf die Gefahr von Aufständen im Falle weiterer Verzögerungen hingewiesen hatten, zu verdanken haben. In diesem fast voreiligen Erlass des Fermans seitens der Türken liegt die Erklärung für die nicht nur scheinbaren, sondern wirklichen Widersprüche, die die Bulgaren bemerken müssen, nämlich zwischen der allgemein feindlichen türkischen Politik ihnen gegenüber und den Vergünstigungen, die ihnen nach dem Ferman zuteilwerden.“
Sicherlich erhoffte sich die türkische Regierung, ebenso wie die uns feindlich gesonnene westliche Diplomatie, als sie unseren dringlichen Forderungen nachgaben, dass die Verabschiedung des Fermans die Feindschaft zwischen Griechen und Bulgaren verstärken und Letztere eventuell in ein Schisma stürzen würde, was sie sowohl die Sympathien der anderen slawischen Völker als auch und vor allem unsere Unterstützung kosten könnte. Nun entscheiden die Besonnenheit und die Mäßigung der Bulgaren darüber, ob es ihnen gelingt, die boshaften Erwartungen und Hoffnungen der Feinde der Orthodoxie zu enttäuschen. Sie müssen abwarten, bis es zu einem friedlichen Abkommen mit dem Patriarchat von Konstantinopel und zur endgültigen Lösung der kirchlichen Frage kommt. Sicherlich hat letztlich nur unsere Mediation den Ökumenischen Patriarchen bis jetzt davon abgehalten, seine Drohungen wahrzumachen. Unsere warme Sympathie gegenüber unseren Glaubensgenossen und Brüdern gilt als bewährteste Garantie dafür, dass wir auch in Zukunft die Bulgaren nicht ohne Beistand lassen, solange sie selbst nicht die Besonnenheit verlieren und sich auf dem festen Boden der Orthodoxie halten …“[4]
Laut Artikel 1 des Fermans wurde die gesamte Verwaltung der geistlich-religiösen Angelegenheiten dem Bulgarischen Exarchat gewährt. Es gab eine Reihe von Artikeln, die eine kanonische Verbindung des neu errichteten Bezirks mit dem Patriarchat von Konstantinopel verlangte; z.B. musste der Patriarch nach der Wahl des Exarchen durch den Bulgarischen Synod eine Bestätigungsurkunde ausstellen (Art. 3); seines Namens musste während des Gottesdienst gedacht werden (Art. 4); in Angelegenheiten des Glaubensbekenntnis musste der Patriarch und sein Synod dem Bulgarischen Synod die erforderliche Hilfe leisten (Art. 6); die Bulgaren mussteт das heilige Myron aus Konstantinopel erhalten (Art. 7). Artikel 10 bestimmte die Grenzen des Exarchats als jene Diözesen, in denen die bulgarische Bevölkerung überwog. In Bezirken mit gemischter Bevölkerung war geplant, „Referenden“ unter der Bevölkerung durchzuführen, wobei für die Einordnung zur Jurisdiktion des Bulgarischen Exarchats nicht weniger als zwei Drittel der Stimmen erforderlich waren.
Dennoch erklärte die Patriarchie von Konstantinopel den Ferman für unkanonisch. Patriarch Gregor VI. äußerte seine Absicht, zum Thema Bulgarien ein Ökumenisches Konzil einzuberufen. Als Antwort auf sein Sendschreiben an die autokephalen Kirchen lehnte der Heiligste Synod der Russischen Kirche den Vorschlag zur Einberufung eines Ökumenisches Konzils ab und empfahl, den Ferman zu akzeptieren, denn er enthalte alle Hauptpunkte des Projektes von Patriarch Gregor VI., wohingegen die Abweichungen unerheblich wären.[5] Die Regierung der Türkei lehnte die Einberufung eines Ökumenischen Konzils ebenfalls ab, und Patriarch Gregor VI. verließ seine Kathedra. Danach schrieb er in einem Brief an Andrej Murawjow[6]: „Ich danke Gott, der es nicht zuließ, dass wir über unsere Kräfte versucht und gezwungen würden, die heilige Kirche gänzlich oder in ihren Teilen einer unheilbaren und bislang unbekannten Krankheit auszusetzen, da wir an die Unterteilung von Christen, die in demselben Taufbecken wiedergeboren wurden und in derselben Stadt und Diözese leben, nicht gewohnt sind.“[7]
Inzwischen begannen die Bulgaren, die administrative Struktur des Exarchats zu errichten. Es war notwendig, ein provisorisches Verwaltungsorgan zur Vorbereitung der Satzung einzusetzen, welches laut Artikel 3 des Fermans die innere Verwaltung des Bulgarischen Exarchats bestimmen sollte.
Das erste Kirchliche Nationale Konzil fand in Konstantinopel vom 23. Februar bis zum 24. Juli 1871 unter der Leitung von Metropolit Hilarion von Lowetsch statt. Die vom Konzil verabschiedete Satzung wurde der Hohen Pforte zur Bewilligung übergeben, von der osmanischen Regierung aber nie in Kraft gesetzt. Eines der Hauptprinzipien dieses Dokuments war die freie Wahl: auf alle kirchlichen Posten (einschließlich Exarchatsbeamten) wurden Kandidaten nicht ordiniert, sondern gewählt. Laien als Mitglieder von gemischten Räten waren dazu berufen, im kirchlichen Leben eine wichtigste Rolle zu spielen.
Einige Zeitgenossen standen diesem Prinzips ziemlich ablehnend gegenüber: „ Wahrhaft, Laien agieren meist noch heftiger als Geistliche; sie ziehen ihre Hirten mit, anstatt von ihnen geleitet zu werden; und dasselbe sehen wir bei den Griechen, auch wenn sie sich wie auch die Bulgaren darum bemühen, der Sache einen kirchlichen Anstrich zu geben…
Es ist auch traurig, daran zu denken, wer diese profanen Leiter der geistlichen Väter sind: weltliche, ehrgeizige Menschen mit guter Ausbildung, teilweise Ausländer, die sich mehr mit irdischen Interessen beschäftigen als mit kirchlichen Problemen, die sie geistlich kaum durchdringen.
Ich wiederhole: es wäre beängstigend, wegen ihnen exkommuniziert zu werden, auch wenn diejenigen, die so gnadenlos exkommunizieren, Unrecht haben!“[8]
Der neue Patriarch von Konstantinopel, Anthimos VI., der 1871 gewählt wurde, war bereit, Wege der Versöhnung mit der bulgarischen Partei zu finden, wofür er seitens der prohellenistischen Partei hart kritisiert wurde. Die Mehrheit der Bulgaren bat aber den Sultan, die völlige Unabhängigkeit des Bulgarischen Exarchats von dem Patriarchat von Konstantinopel anzuerkennen. Dieser Streit führt dazu, dass die Hohe Pforte den Ferman vom Jahre 1870 im Alleingang in Kraft setzte. Am 11. Februar 1982 erteilte die osmanische Regierung eine Genehmigung zur Wahl eines Exarchen von Bulgarien. Bereits nach fünf Tagen wurde Metropolit Anthimos I. von Vidin gewählt und am 23. Februar 1982 in seinem neuen Rang offiziell bestätigt. Am 17. März traf er in Konstantinopel ein, um sein Amt aufzunehmen. Am 2. April 1982 erhielt Anthimos einen Berât (Erlass) vom Sultan, der seinen Aufgabenbereich als Hauptvertreter der orthodoxen Bulgaren festlegte. Doch erkannte die Patriarchie von Konstantinopel diese Akte nicht für legitim an.
Der bulgarische Exarch Anthimos schrieb an Murawjow am 12. April 1872: „Was kann ich aber für die Ressentiments, die die Ökumenische Patriarchie mir und unserem ganzen Volk gegenüber hat?(…) Infolge dessen kann aber das fromme bulgarische Volk, das sehnsüchtig darauf wartet, die erwünschten Rechte zu erhalten, sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen lassen (…)
Die Gründe für diese traurige Lage sind die Vernichtung der Unabhängigkeit der Bulgarischen Kirche, die Fahrlässigkeit der nach Bulgarien geschickten geistlichen Leiter und Hirten gegenüber der spirituellen Erziehung ihrer Herde, und die Verachtung, mit der die Hirten diese jungen Kinder der Orthodoxen Kirche behandelten.“[9]
Am 11. Mai 1872, am Fest der heiligen Brüder Kyrill und Method, leitete Exarch Anthimus I. zusammen mit drei Erzbischöfen trotz Verbots des Patriarchen einen feierlichen Gottesdienst. Im Anschluss daran verlas er eine Urkunde, in der die Wiederherstellung der unabhängigen Bulgarischen Orthodoxen Kirche verkündet wurde. Es wurden Metropoliten des Exarchats ordiniert, die am 28. Juni 1872 von der osmanischen Regierung Berâts erhielten, die ihre Ordinierung bestätigten. Die Kathedra des Exarchen blieb bis November 1913 in Konstantinopel, und wurde dann von Exarch Josef I. nach Sofia verlegt.
Auf der Tagung des Synods der Patriarchie von Konstantinopel, die vom 13. bis zum 15. Mai 1872 stattfand, wurde Exarch Anthimos des Amtes enthoben und abgesetzt, die Metropoliten Panaret von Plowdiw und Hilarion von Lowetsch exkommuniziert und Bischof Hilarion von Makariopolis für ewig verbannt. Alle Hierarchen, Kleriker und Laien des Exarchats wurden mit Kirchenstrafen belegt.
Im August und September 1872 fand in Konstantinopel ein Konzil statt, an dem Hierarchen des Patriarchats von Konstantinopel teilnahmen (darunter die ehemaligen Patriarchen Gregor VI. und Joachim II.), außerdem Patriarch Sophronios von Alexandria, Hierotheos von Antiochia und Kyrill von Jerusalem (der allerdings die Sitzungen bald verließ und sich weigerte, die Beschlüsse des Konzils zu unterzeichnen), Bischof Sophronios von Zypern sowie 25 Bischöfe und einige Archimandriten (darunter Vertreter der Kirchen von Hellas).
Zum Zeitpunkt des Konzils „war das Schisma bereits stark fortgeschritten“, lesen wir in dem Buch von Iwan Sokolow. „Durch ihre Eimischung bekräftigte die Hohe Pforte die Bulgaren in ihrem Phyletismus, während die griechischen Laien durch ihren Druck auf den Patriarchen und den Synod jegliche Möglichkeit von Zugeständnissen in diesem Kirchenstreit, der zu einer nationalpolitischen Angelegenheit geworden war, zunichtemachten. Daher setzte das Konzil von Konstantinopel am 16. September 1872 die Bestimmung über das kirchliche Schisma der Bulgaren in Kraft.“[10]
Das Konzil von Konstantinopel begann seine Tagungen am 29. August 1872. Es wurde ein spezieller Ausschuss zur Vorbereitung eines Vortrags über das Fehlverhalten der Bulgaren gebildet. Dieser Vortrag wurde am 12. September gehalten. Er bot eine historische Übersicht über die Entwicklung dieses Kirchenstreits, eine Auslegung des nationalen Prinzips in der Kirche als Häresie des Phyletismus und eine Analyse der „antikanonischen“ Taten der Bulgaren. Am 16. September verabschiedete das Konzil einen Akt über die Exkommunikation von bulgarischen Bischöfen und einen Horos, der die Bulgarische Kirche für schismatisch erklärte.[11] Am nächsten Tag wurde der Horos in der Patriarchenkirche und innerhalb einer Woche in allen griechischen Gotteshäusern von Konstantinopel verlesen.
Zur kanonischen Berechtigung dieses konziliaren Beschlusses äußerten viele Theologen ihre Meinungen. Als Gegner der Anerkennung dieser Exkommunikation trat Erzbischof Makarij (Bulgakow) ein.
1873 fasste Erzbischof Makarij von Litauen (zukünftiger Metropolit von Moskau) ein Memo zusammen, das dem griechisch-bulgarischen Problem und vor allem der Analyse der Beschlüsse des Konzils von Konstantinopel 1872 gewidmet war.
„Sündlos sind nur Ökumenische Konzile, während Landeskonzile fehltreten und von der Wahrheit abweichen können; das wurde bedauerlicherweise auch durch das Konzil von Konstantinopel bestätigt… Es verurteilte sie [die Bulgaren] für ihren Phyletismus bzw. ihren Wunsch, ihre Volkskirche wiederzuerrichten, ganz ungerecht“, schrieb der hl. Erleuchter Makarij. „Wir sind nicht berechtigt, sie für Schismatiker zu halten; solch ein Urteil hätte auch nicht die Kraft, sie zu exkommunizieren.“[12]
Nach Meinung des Erzbischofs Makarij wäre es auch ungerecht, den Phyletismus für eine Häresie zu halten, denn die Existenz verschiedener Kirchen für verschiedene Nationalitäten sei eine uralte orthodoxe Praxis, die weder der evangelischen Lehre über die Einheit aller Gläubigen in Christum noch dem Dogma über die Einheit der Kirche Christi widerspreche. Dafür spricht auch die Tatsache, die nicht-griechische Diplomaten und kirchliche Aktivisten konstatierten, dass sich die Patriarchie von Konstantinopel im Streit mit den Bulgaren die nationalen griechischen Interessen zur Richtlinie gemacht hatte, als sie sich weigerte, die bulgarische kirchliche Unabhängigkeit zuzulassen. Eigentlich gehörte dieses auf dem Konzil von Konstantinopel diskutierte Problem weder zur orthodoxen Dogmatik noch zum kanonischen Recht, wie das Konzil es ausgelegt hatte, sondern war Angelegenheit der Kirchenleitung.
Außerdem fehlte den auf dem Konzil anwesenden Bischöfen die geistliche Freiheit, die für eine unbefangene Besprechung der Streitfragen notwendig gewesen wäre. Auch die zu beschuldigenden bulgarischen Erzbischöfe hatten nicht die Möglichkeit, sich so zu verteidigen, wie es die historische Praxis der Ökumenischen Konzile vorgesehen hätte.
Drittens war das Konzil zu Konstantinopel kein Ökumenisches, sondern ein Landeskonzil, und seine Beschlüsse waren insofern nicht bindend für die gesamte Orthodoxie.[13]
Außerdem nahmen an dem Konzil keine Vertreter der Russischen, der Rumänischen und der Serbischen Kirche teil. Der Patriarch Kyrill von Jerusalem unterzeichnete den Beschluss über das Schisma nicht. Der Synod der Kirche von Antiochia widersprach seinem Oberhaupt, Patriarch Hierotheos, so dass die vom Patriarchen erteilte Zustimmung zum Beschluss des Konzils nicht die Meinung der gesamten Kirche von Antiochia wiedergab.[14]
Die Gründe, die Patriarch Kyrill von Jerusalem bewegt hatten, die Verordnung des Konzils nicht zu unterzeichnen, erfahren wir aus seinem Brief an Murawjow vom 28. Januar 1873: „Nachdem wir im Juli vorigen Jahres auf Einladung Seiner Heiligkeit des Ökumenischen Patriarchen von Jerusalem nach Konstantinopel gekommen waren und Näheres über die Angelegenheit erfahren hatten, fanden wir, dass Alle sehr aufgeregt waren durch das Geschrei des Pöbels und voreingenommene Meinungen, die nichts anderes als bloße nationale Antipathien schürten. Aus diesem Grund unterstützten wir den falschen Schritt, den die Kirche von Konstantinopel unvernünftigerweise getan hatte, nicht.“[15]
Eines der Argumente, die die Unbefangenheit des Beschlusses des Konzils von Konstantinopel in Zweifel ziehen, führt Mirawjow in seinem Brief an den Ökumenischen Patriarchen Antimos vom 11. Oktober 1872 an: „Der Abfall der Kirche von Hellas war abrupt geschehen, ohne jede vorbereitende Verhandlung, zur gleichen Zeit mit der politischen Ablösung des Königtums vom Osmanischen Reich. Obwohl die Gemeinschaft verletzt worden war, war diese Kirche weder katholisch und offiziell als schismatisch erklärt, noch waren ihre Bischöfe exkommuniziert oder abgesetzt worden. Sie wurde auch nicht der neuen Häresie des Phyletismus beschuldigt, die jetzt den Bulgaren, da sie verschiedenen Stämmen angehören, nachgeredet wird, während die Griechen eines gemeinsamen Stammes seien. Und was nun? Dieselben Hellenen von Athen, die ihre eigene langjährige Entfremdung von der kirchlichen Einheit offenbar vergessen haben, sind nun Betreiber der Verurteilung der Bulgaren und ihre heikelsten Gegner!“[16]
Nachdem wir nun die Geschichte der Verkündung der Autokephalie der Bulgarischen Kirche 1872 kurz beleuchtet haben, wollen wir versuchen dieses historische Ereignis zu bewerten.
Quellen der Autokephalie der Bulgarischen Kirche
Es ist offensichtlich, dass die Bulgarische Kirche vor 1872 dem Patriarchat von Konstantinopel angehört hatte. Deshalb konnte die einzige kanonische Quelle der Autokephalie der Bulgarischen Kirche ein Beschluss eines Landeskonzils der Kirche von Konstantinopel sein. Solch einen Beschluss gab es bekanntlich nicht. Aus Sichtweise der kirchlichen Kanones konnte die selbstverkündete Autokephalie der Bulgarischen Kirche bis zu ihrer Anerkennung durch die Ökumenische Patriarchie somit nicht als legitim gelten.
In Wirklichkeit gibt die Geschichte dieser Anerkennung zu denken. Im Jahre 1945, 73 Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen, bezeichnete das Patriarchat von Konstantinopel das bulgarische Schisma als „Anachronismus“. Es wurde ein „Protokoll über die Abschaffung der langjährigen Anomalie im Leib der heiligen Orthodoxen Kirche“ unterzeichnet[17]und damit anerkannt, dass dieser Konflikt verjährt und der Kirchenbann wegen der „Häresie des Phyletismus“ aus dem Jahre 1872 de facto als „inexistent“ betrachtet werden könne. So war es letztlich die Patriarchie von Konstantinopel, die ihren Standpunkt änderte und „büßen musste“. Was aber die Bulgarische Kirche betrifft, blieb sie nicht bei ihren 1872 verkündeten Prinzipien.
Manche moderne Aktivisten (zum Beispiel ukrainische Schismatiker aus dem „Patriarchat von Kiew“) versuchen, diese Tatsache als Präzedenzfall auszulegen, der die Existenz von selbstverkündeten Autokephalien berechtige. Doch diese Schlussfolgerung ist nicht aufrichtig. Zustimmung und Konzilsbeschluss der Mutterkirche sind nicht hinreichend für eine Autokephalie. Auch die Zustimmung der anderen autokephalen Kirchen ist wichtig. Eine neue autokephale Kirche muss brüderliche Beziehungen mit allen Landeskirchen knüpfen. Das ist der Punkt, in dem sich das Bulgarische Exarchat radikal von den ukrainischen Schismatikern, die von keiner Landeskirche anerkennt werden, unterscheidet. Was aber die Bulgarische Kirche betrifft, pflegte sie in den Jahren des Schismas ziemlich enge Beziehungen vor allem mit der Russischen Kirche, die inoffiziell versuchte, eine Versöhnung der Kirchen und die Aufhebung des Schismas herbeizuführen.[18] Unter anderem äußerten sich die Beziehungen der Russischen und der Bulgarischen Kirchen im Folgenden:
Der russische Synod spendete der Bulgarischen Kirche gottesdienstliche Gewänder, Bücher und Gerätschaften, und er beschäftigte sich mit den juristischen Angelegenheiten der Kirche im Bulgarischen Fürstentum.
Auf Bitte des Bulgarischen Exarchen nahm der Russischen Synod Bulgaren in russische geistliche Schulen auf und vergab Stipendien.
Einige Hierarchen der Russischen Kirche belieferten die Bulgarische Exarchie mit geweihtem Myron, so etwa Erzbischof Sergij von Kischinau, Metropolit Platon von Kiew sowie Metropolit Palladij von St. Petersburg.
Einige russische Bischöfe gestatteten niederrangigen bulgarischen Klerikern nach Gutdünken und Belieben mit russischen Geistlichen zu dienen, während bulgarische Geistliche, die in russischen geistlichen Seminaren und Akademien studierten, an der Verrichtung von Gottesdiensten in Gotteshäusern dieser geistlichen Schulen teilnahmen. Während des russisch-türkischen Krieges 1877–1878 dienten Vertreter des russischen Armeeklerus in bulgarischen Gotteshäusern zusammen mit bulgarischen Klerikern.
Die Patriarchie von Konstantinopel hielt diese Zusammenarbeit des russischen Klerus mit der Bulgarischen Kirche für einen Akt der Leugnung des Schismas durch die Russische Kirche, was 1878 schriftlich ausgedrückt wurde. Der Russische Heiligste Synod antwortete, dass er mit dem Beschluss des Konzils zu Konstantinopel vom 1872 über das bulgarische kirchliche Schisma nicht einverstanden sei, aber - da er zur Versöhnung zwischen Bulgaren und Griechen beitragen möchte - davon ausgehe, nach der 1. Regel des heiligen Basilios dem Großen, welche zwischen Häresie, Schisma und eigenwilliger Versammlung[???] unterscheide, dass die Bulgaren ach nach dem Konzil vom 1872 keine Schismatiker seien. Wenn die Bischöfe und Priester des Exarchats eine Vereinigung mit der durch sie verurteilten Kirche wünschen sollten, könnten sie nach entsprechender Buße in ihre aktuellen Ränge aufgenommen werden.
Auch wenn der Russische Heiligste Synod diese Sichtweise auf die bulgarisch-griechischen Beziehungen einnahm, vermied er lange die volle kanonische Gemeinschaft mit der Bulgarischen Kirche.
Bedingungen und Faktoren der Autokephalie
Bei der Bulgarischen Kirche lagen besondere Bedingungen bzw. Faktoren der Autokephalie vor.
Vor allem war die Bulgarische Kirche bereits vor den beschriebenen Ereignissen autokephal gewesen, und zwar mehrere Jahrhunderte lang. Es ging also lediglich um die Wiedererrichtung eines alten Status Quo.
Zudem gab es unter Bischöfen, Klerikern und Laien starke Bestrebungen, die kirchliche Unabhängigkeit zu erhalten. Laut 112. und 132. Regel des Konzils zu Karthago soll im Falle umstrittener Jurisdiktion der Wunsch des Volkes Gottes berücksichtigt werden.
Und was den Hauptpunkt bei der Gewährung der Autokephalie angeht, das „Wohl der Kirche“, so hätte dieses in der historischen Situation Mitte des 19. Jahrhunderts zweifellos im kirchlichen Frieden gelegen hätte, der hätte erreicht werden können, wenn das Patriarchat von Konstantinopel den Ferman des Sultans von 1870 und die nach diesem Dokument errichtete Bulgarische Exarchie anerkannt hätte.
Unsere Übersicht über die damaligen Ereignisse möchten wir mit einem Zitat aus einem Artikel von I.E. Troizkij abschließen, das mit dem Problem zusammenhängt, das Protopresbyter Alexander Schmemann in seinem Artikel „Bemerkenswerter Sturm“ («Знаменательная буря»)[19] beleuchtet. Es geht darum, dass das Patriarchat von Konstantinopel dazu tendiert, die Realien des Byzantinischen Reiches mittels spezieller Anpassungen ins moderne Leben zu übertragen.
„Bulgarien verlor seine kirchliche Autokephalie 1767. Ob dies auf Wunsch der Bulgaren geschah, die angeblich selbst den Patriarchen Samuel von Konstantinopel um Aufnahme in sein Patriarchat gebeten hatten, wie es die Griechen behaupten, oder gegen ihren Willen, durch Gewalt und Betrug, wie die Bulgaren beteuern, soll hier keine Rolle spielen. Auch eine freiwillige Unterordnung zu irgendeinem Zeitpunkt und unter besonderen Umständen sollte nicht die totale Unterordnung für alle Zeiten und unter allen Umständen zur Folge haben. In den 1950er Jahren wünschte Bulgarien diese verlorene Autokephalie zurückzuerlangen. Aber anstatt diesem Wunsch nachzukommen, beschuldigte die Kirche von Konstantinopel die Bulgaren des Phyletismus und bezeichnete sie auf dem Konzil von Konstantinopel 1872 als Schismatiker. Formal hatte sie Recht, da in der Gesamtentwicklung des kirchlichen und politischen Lebens des Orients zwei Kirchen innerhalb eines Staates nicht vorkamen; nur jene Völker erhielten das Recht auf eine autokephale Kirche, die auch einen selbstständigen Staat bildeten, obwohl die Gleichsetzung des Türkischen Reiches mit Byzanz in diesem Falle unangemessen war. Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat waren aber in der Türkei ganz andere als im Byzantinischen Reich.“[20]
In der Geschichte der Wiedererrichtung der Autokephalie der Bulgarischen Kirche im 19. Jahrhundert sind die Verordnungen des Konzils von Konstantinopel 1872 besonders bemerkenswert.
Wir, die, der Russischen Kirche folgend, mit der Exkommunizierung der Bulgaren nicht einverstanden sind[21], können das Problem des Phyletismus nicht außer Acht lassen. Das Studium mehrerer historischer Zeugnisse und des griechisch-bulgarischen Disputs lässt die paradoxe Schlussfolgerung zu, dass nicht nur die Bulgaren, sondern auch die Griechen zum damaligen Zeitpunkt dem Phyletismus verfallen waren. Es war eben der griechische Nationalismus, der die langwierigen Verhandlungen in eine Sackgasse brachte und zu den rigiden Entscheidungen führte, die 1872 im Kirchenbann gipfelten.
Phyletismus ist ein Extrem, das jeder autokephalen Kirche droht, wenn nationale Ideen und Prinzipien zu hoch gehoben werden. Wir können aber kein Patentrezept nennen, wie der Universalismus der Kirche mit dem nationalen Prinzip zu vereinen wäre. Hier lässt sich eine Parallele zum Dogma von Chalcedon erkennen, das durch die vier berühmten „Nein“ apophatisch ausgedrückt ist.
Also können wir in unserem Falle nur bezeugen, dass die Orthodoxie das nationale Prinzip nicht verwirft, also nicht wie die Römisch–Katholische Kirche zum Universalismus neigt, aber eben auch nicht zu Nationalismus in seiner extremen Form (Phyletismus). Die orthodoxe Ekklesiologie strebt, sowohl theoretisch als auch praktisch, nach einer unvermischten und unteilbaren Einheit von Universalismus und nationalem Prinzip im kirchlichen Leben.
[1]Снегаров И. Взаимоотношения Болгарской и Русской Православных Церквей до и после провозглашения схизмы (1872 год) // Годишник на Духовната академия. 1952. Т. 2 (27). С. 201–207.
[2]Герд Л.А. Константинополь и Петербург: церковная политика России на православном Востоке (1878–1898). М., 2006. С. 234.
[3]Българската екзархия: сборник документи от архивните фондове на Народна библиотека «Иван Вазов». Пловдив, 2003. С. 43.
[4]Документи за българската история. Архив на Найден Геров. 1857–1876 / Подреден от Т. Панев, под редакцията на М.Т. Попруженко. София, 1932. Т. 1. С. 547–548.
[5]Снегаров И . Взаимоотношения Болгарской и Русской Православных Церквей до и после провозглашения схизмы (1872 год). С. 207.
[6]Andrej Murawjow (russ. Андрей Николaевич Муравьёв, 30. April 1806 – 18. August 1874) war Kammerherr am russischen Zarenhof, orthodoxer Schriftsteller und Kirchenhistoriker, Pilger und Reisender, Dramaturg sowie Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften. (Anm.d.Ü.)
[7]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу // Труды Киевской духовной академии. 1873. Т. 1. С. 106.
[8]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу. С. 114.
[9]Ebenda, S. 110–111.
[10]Соколов И.И . Константинопольская Церковь в XIX веке: Опыт исторического исследования. СПб., 1904. С. 650–651.
[11]Den Text dieser Entscheidung in russischen Übersetzung gibt es in: Макарий , митрополит. Греко-болгарский церковный вопрос и его решение // Православное обозрение. 1891. № 11–12. С. 734–735.
[12]Ebenda. S. 750, 754.
[13]Теплов В. Греко-болгарский церковный вопрос по неизданным источникам. СПб., 1889. С. 121–132.
[14]Маркова З. Българската екзархия. 1870–1879. София, 1989. С. 51–52.
[15]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу. С.143.
[16]Ebenda. S. 136.
[17]Косик В.И., Темелски Хр., Турилов А.А. Болгарская Православная Церковь // Православная энциклопедия. Т. 5. М., 2002. С. 638.
[18]Христов Иоанн. , протоиерей. Русско-болгарские церковные отношения в годы болгарской схизмы // Журнал Московской Патриархии. 1976. № 8. С. 48.
[20]Троицкий И.Е. Церковная сторона болгарского вопроса. СПб., 1888. С. 17–18.
[21]Es gibt nämlich den kirchlich-theologischen Begriff der „Rezeption“, also die Aufnahme konziliarer Beschlüsse durch die Kirche (S.: [Anton Kartaschow] Карташев А.В. Вселенские Соборы. СПб., 2002. С. 240).
Quelle: http://www.pravoslavie.ru/orthodoxchurches/41629.htm