Einflüsse und Abgrenzungen - Der Protestantismus im Spiegel der russischen orthodoxen Theologie des 19./20. Jahrhunderts
Für die Jahrzehnte des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts in Russland hat sich in der Literatur- und Kulturgeschichte allgemein die Bezeichnung »Silbernes Zeitalter« eingebürgert. In theologiegeschichtlicher Hinsicht müsste für diese Jahrzehnte allerdings von einem »Goldenen Zeitalter« gesprochen werden. Die Theologie um die Jahrhundertwende führte die Forschung in ihren verschiedenen Disziplinen in bis dahin ungekannte Höhen. Wer waren die prominenten orthodoxen Theologen in dieser Zeit? Wie sahen Rezeption und Kritik orthodoxer Theologie im deutschen Protestantismus aus? Und wie schätzten die russischen Akademietheologen den deutschen Protestantismus ein? Diese und andere Fragen werden im Vortrag von Dr. Jennifer Wasmuth, gehalten an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, erörtert.
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Für die Jahrzehnte des ausgehenden 19., beginnenden 20. Jahrhunderts in Russland hat sich in der Literatur- und Kulturgeschichte Osteuropas allgemein die Bezeichnung »Silbernes Zeitalter« eingebürgert. In dieser Zeit entstanden – parallel zu der allgemeinen politischen Verunsicherung, gesellschaftlichen Umbrüchen, revolutionären Strömungen, die das autokratische System des Zarenreiches in Frage stellten und schließlich ja auch zu Fall bringen sollten – meisterliche Werke in Literatur, Musik und bildender Kunst. »Silbern« heißt das Zeitalter dabei deshalb, weil sich die Künstler dieser Zeit dem Erbe der großen russischen Schriftsteller, allen voran Aleksandre Puškin und Fedor Dostoevskij, verpflichtet fühlten, ohne sich aber mit ihnen auf eine Stufe stellen zu wollen.

In theologiegeschichtlicher Hinsicht müsste für diese Jahrzehnte analog, wenn es denn nicht so pathetisch klingen würde, vom »Goldenen Zeitalter« gesprochen werden. Denn die russische Theologie des ausgehenden 19., beginnenden 20. Jahrhunderts hat in wissenschaftlicher Hinsicht Leistungen vollbracht, die es in dieser Weise weder vorher noch nachher gegeben hat. Sie verdankte sich – ähnlich wie Literatur, Musik und Kunst – den Errungenschaften des frühen 19. Jahrhunderts, dem Ausbau des geistlichen Schulwesens, den Reformen der höheren Ausbildungsstätten, einer kirchlichen Autorität wie dem Metropoliten von Moskau und vormaligen Rektor der Geistlichen Akademie von St. Petersburg Filaret (Drozdov; 1782-1867), der die wissenschaftliche Arbeit zumindest in begrenztem Rahmen förderte. Die Theologie um die Jahrhundertwende blieb dahinter jedoch nicht zurück, sondern führte die Forschung in ihren verschiedenen Disziplinen zu einer bis dahin ungekannten Höhe.

 

Beispiele für prominente orthodoxe Theologen der Jahrhundertwende 

Wer verbirgt sich hinter der russischen Theologie dieser Zeit? Was für Namen und Werke sind es, die hier in jedem Fall zu nennen wären? Im Grunde müssten sämtliche theologische Disziplinen durchgegangen werden, denn in jeder Disziplin finden sich Fachvertreter mit – zumindest für den Kontext der russischen Theologie – neuen, innovativen Forschungsansätzen. Ich will mich jedoch auf die historischen Arbeiten beschränken, da hier ohne Frage die bedeutendsten Beiträge geliefert worden sind. Der selbst aus Russland stammende, später in den Vereinigten Staaten lehrende orthodoxe Theologe Georgij Florovskij (1893–1979) hat deshalb auch vollkommen zurecht in seinem Werk »Wege der russischen Theologie« (Puti russkogo bogoslovija) diese Phase der russischen Theologiegeschichte mit dem Begriff »Historische Schule« (Istoričeskaja Škola) überschrieben.[1] Zugleich steht die »Historische Schule« aber auch für eine methodische Neuorientierung in der russischen Theologie insgesamt, die die Forschungsarbeiten in den verschiedenen Disziplinen überhaupt erst möglich gemacht und dann auch befördert hat: die Anwendung historisch-kritischer Methoden.

Genannt seien hier nur einige wenige Namen: Aufgrund seiner patristischen Studien wurde der Petersburger Theologe Vasilij V. Bolotov (1854–1900) bekannt.[2] Zumal seine Stellungnahme zum Filioque[3] fand weithin Anklang. In seiner historisch-kritischen Arbeit durch den Metropoliten von Moskau Makarij (Bulgakov; 1816-1882) gefördert, von dem selbst eine umfangreiche, wenn auch wenig kritische Darstellung der russischen Kirchengeschichte stammt, verfasste Evgenij E. Golubinskij (1834-1912) eine »Geschichte der russischen Kirche«, die die Widerlegung kirchlicher »legendarischer« Überlieferungen einschloss. Nach dem Tode des Metropoliten kam es allerdings zu einem Konflikt mit dem Heiligsten Synod, der dazu führte, dass Golubinskij von der Moskauer Geistlichen Akademie an die Moskauer Universität wechselte – ein Schicksal, das er mit einer Reihe anderer Akademietheologen teilte, darunter dem bedeutenden russischen Historiker Vasilij O. Ključevskij (1841-1911), der zunächst auch an der Moskauer Geistlichen Akademie tätig war, bevor er an die Moskauer Universität kam. Schließlich sei hier noch der in St. Petersburg als eigentlich als Neutestamentler lehrende Nikolaj N. Glubokovskij (1863-1937) genannt, der durch seine Arbeiten über Theodoret von Cyrus sowie sein Werk über die »Russische theologische Wissenschaft in ihrer historischen Entwicklung und gegenwärtigen Lage« (Russkaja bogoslovskaja nauka v ee istoričeskom razvitii i novejšem sostojanii) Bekanntheit erlangte. 

 

Rezeption und Kritik orthodoxer Theologie im deutschen Protestantismus

Die hier genannten orthodoxen Theologen werden nicht nur heute noch in Russland gelesen, ihre Werke wieder neu aufgelegt. Sie hatten vielmehr bereits zu ihrer Zeit über die Grenzen des Landes hinaus einen Namen. So schreibt der Göttinger Theologe Gottlieb Bonwetsch (1848-1925) in seinem Artikel über »Rußland« in der »Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche«, Vorläuferin der »Theologischen Realenzyklopädie«: »Tüchtige Leistungen hat die russische Theologie besonders auf dem historischen Gebiet aufzuweisen. Hier ist der Arbeiten Makarijs, Golubinskijs, Bolotows [...], Glubokowskijs u.a. zu gedenken.«[4] Der zu seiner Zeit in Halle lehrende Ferdinand Kattenbusch (1851-1935) rühmt darüber hinaus in seiner Konfessionskunde, dass die – Zitat – Russen neuerdings wieder eifrigst bemüht seien, ihre Geschichte zu erforschen: »Sie sind besonders daran gegangen, ihre Bibliotheken und Archive auf patristisches (und mittelalterliches) Material zu durchsuchen. Die Früchte dieses, mit allen Mitteln moderner wissenschaftlicher [...] Technik schaffenden Studiums sind ja zum Theil so bekannt, dass sie selbst jeder junge Theolog zu nennen weiss (ich erinnere nur an den Fund der *4*"P¬ τä< •B@FJ`8T< und die musterhafte Edition des Bryennius), zum Theil so mannichfaltig, dass man sie gar nicht kurzerhand characterisiren könnte.«[5] Und selbst der Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851-1930), der in seinem »Wesen des Christentums« (1900) ein ja alles andere als freundliches Bild der orthodoxen Kirchen gezeichnet hat, ließ es sich nicht nehmen, in der »Theologischen Literaturzeitung« in einer gewissen Regelmäßigkeit über neuere Forschungsergebnisse russischer Theologen zu berichten. In einer bemerkenswerten Rezension über das von Glubokovskij verfasste Werk »Der selige Theodoret, Bischof von Cyrus« schreibt Harnack: »Seit einer Reihe von Jahren erfährt die kirchenhistorische Forschung höchst willkommene Bereicherung durch Arbeiten russischer Gelehrter. Diese Arbeiten sind nicht zahlreich [...], aber sie sind fast sämtlich ausgezeichnet durch einen rühmlichen Fleiss und eine staunenswerte Vollständigkeit in der Ausnutzung der Quellen und in der Beherrschung der Literatur. [...] Unter allen Untersuchungen dieser Art aber, die mir in den letzten Jahren in die Hände gekommen sind, nimmt die vorstehende des Licentiaten der Moskauer Geistlichen Akademie, Nikolai Nikanorowitsch Glubokowski, den ersten Rang ein, ja sie ist überhaupt eine der bedeutendsten patristischen Monographien, die seit Lightfoot’s Ignatius erschienen ist, und so sehr man die russische Kirche beglückwünschen muss, dass ein solches Werk aus ihrer Mitte hervorgegangen ist, so sehr muss man bedauern, dass der Verfasser russisch geschrieben hat, und seine Arbeit daher nicht die Verbreitung finden wird, die ihr gebührt.« Und speziell zur Literaturkenntnis schreibt Harnack noch: »Es ist mir nicht bekannt, dass in den letzten Jahren in Deutschland ein kirchenhistorisches Werk erschienen ist, in welchem die ältere und die neuere deutsche, englische und französische Literatur in dieser Reichhaltigkeit herbeigezogen ist. Und dieses Buch ist in Moskau geschrieben! Welche Bücherschätze muss die Bibliothek der Geistlichen Akademie daselbst besitzen? [...] Ich habe durch ihn Kenntnis von deutschen Arbeiten erhalten, die mir entgangen waren.«[6] 

Insgesamt war die Kenntnis der zeitgenössischen russischen Theologie auf protestantischer Seite allerdings gering. Es gab zwar einige wenige monographische Darstellungen, Zeitschriften- und Lexikonartikel und in den wichtigen Konfessionskunden dieser Zeit wurden die Ostkirchen immerhin behandelt – im Unterschied etwa zu der 1832 zum ersten Mal erschienenen, später vielfach aufgelegten »Symbolik« von Johann Adam Möhler (1796-1838), der die Behandlung der Ostkirchen vollständig ausklammerte und zur Begründung schlicht anführte: »(...) ein gegenwärtiges Interesse führt uns gewiß zur orientalischen Kirche und ihren Unterabtheilungen nicht hin, da zwar der alte Gegensatz dieser Vereine mit den Katholiken und Protestanten fortbesteht, jedoch vor der Hand ohne wirkliche und lebendige Ineinanderbewegung.«[7] Aber etwa bei Friedrich Loofs (1858-1928) ist die sprachliche Barriere zu bemerken; er zitiert überwiegend griechische Werke, auf russische Werke weist er nur in deutscher Übersetzung hin – darunter übrigens als Lektüreempfehlung zum Thema »Christliche Frömmigkeit in der orthodoxen Kirche« ausgerechnet auf die »Volkserzählungen« von Lev N. Tolstoj.[8] Und selbst Ferdinand Kattenbusch räumt in seiner Konfessionskunde ein, dass es die wichtigste Aufgabe wäre, »die ein Kenner neugriechischer [...] und russischer Verhältnisse leisten könnte, dass er eine Geschichte der Theologie der anatolischen Kirche in besonderer Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage darböte.«[9]

 

Rezeption und Kritik des deutschen Protestantismus in der Akademietheologie 

Ganz anders stellt sich die Lage in der zeitgenössischen russischen Theologie dar: Hier bestand eine umfassende Kenntnis des Protestantismus. Mit »Protestantismus« (»протестантизм«), diesem im Russischen üblichen und keinesfalls nur polemisch gemeinten Begriff für die aus der Reformation hervorgegangen Kirchen, waren dabei überwiegend die Entwicklungen in der evangelischen Theologie und Kirche in Deutschland, hin und wieder jedoch auch solche in anderen westeuropäischen Ländern, ja selbst in den Vereinigten Staaten im Blick.   

Die Kenntnis des Protestantismus in dieser Zeit kann man sich dabei gar nicht umfassend und vielschichtig genug vorstellen. Was Ferdinand Kattenbusch als neues konfessionskundliches Programm verkündet hatte, dass die Konfessionen nicht auf ihren Lehrbegriff beschränkt werden dürften und es deshalb nicht ausreiche, nur die Bekenntnisschriften heranzuziehen, dass vielmehr die konfessionelle Eigentümlichkeit, der spezifische Konfessionscharakter zu bestimmen sei und deshalb auch die liturgische Praxis, die Frömmigkeitsformen und die das öffentliche Handeln bestimmende Ethik zu erheben wären, das alles findet sich bereits in der russischen Theologie dieser Zeit in Bezug auf den deutschen Protestantismus umgesetzt.

Man sog förmlich alles auf, was von dort kam. Das betraf zunächst wissenschaftlich-theologische Literatur, Monografien, Zeitschriften, Lexika, die in Deutschland erschienen waren. Auf den Bestelllisten der Bibliotheken der Geistlichen Akademien machten so die Titel westeuropäischer und hier vor allem wieder deutscher Herkunft bis zu Zweidrittel aus! In den von den Geistlichen Akademien selbst herausgegebenen Zeitschriften, die vom Umfang und der Qualität der Beiträge her durchaus mit den berühmten tolstye žurnaly verglichen werden können, die eine kritische Gegenöffentlichkeit bildeten und deshalb auch über die Grenzen Russlands hinaus von den kulturell Gebildeten gelesen wurden, erschienen darüber hinaus zahlreiche ausführliche Berichte zu den jüngeren kirchlichen Entwicklungen in Deutschland.

 

Themen

Das Spektrum der hier behandelten Themen ist deshalb außerordentlich weit: es reicht von der Beschreibung einzelner Gottesdienste und kirchlicher Feiertage, der materiellen und sozialen Lage der evangelischen Geistlichkeit über Fragen der religiösen Bildung, etwa zur Bedeutung des Religionsunterrichtes an öffentlichen Schulen oder der Forschungs- und Lehrfreiheit an theologischen Fakultäten, bis hin zur Darstellung von den die deutsche Öffentlichkeit bewegenden Kontroversen wie dem »Babel-Bibel-« oder dem »Apostolikumstreit« oder auch – zumindest innerkirchlich – heftig diskutierten Amtsenthebungsverfahren. Den breitesten Raum nimmt freilich die Auseinandersetzung mit einzelnen Theologen und ihren Werken ein, allen voran Adolf von Harnack, sowie bestimmten theologischen Themen. Diese wiederum sind zentriert um Fragen, wie die evangelische Theologie sich zu den Ergebnissen naturwissenschaftlicher Forschung, zu Methodik und Anspruch der Geschichtswissenschaften sowie zu den Entwicklungen in der modernen Kultur und Gesellschaft und damit zu Prozessen von »Säkularisierung« ins Verhältnis setzt.  

 

Formen der Auseinandersetzung 

Wie erfolgte die Auseinandersetzung? In welcher Form fand die Bezugnahme auf den deutschen Protestantismus statt?

Bei meiner Untersuchung der Akademiezeitschriften bin ich auch in dieser Hinsicht auf eine große Vielfalt gestoßen. Grundsätzlich lassen sich m.E. jedoch drei Ansätze unterscheiden: der rezeptiv-enzyklopädische, der konfessionell-polemische und der konstruktiv-kritische Ansatz.

Für den rezeptiv-enzyklopädischen Ansatz ist ein allgemein wissenschaftliches Interesse leitend, wohingegen der konfessionelle Gegensatz in den Hintergrund tritt: Die orthodoxe Theologie soll an den neuesten Forschungsergebnissen der westlichen Theologie partizipieren. Das Ziel ist dabei nicht die Auflösung der orthodoxen Theologie in eine allgemein wissenschaftliche Theologie. Angestrebt wird vielmehr eine Veränderung, die es der orthodoxen Theologie erlaubt, ihren eigenen Beitrag zur Entwicklung in Wissenschaft und Gesellschaft zu leisten. Da dies aber nach Überzeugung der Vertreter des rezeptiv-enzyklopädischen Ansatzes nur unter der Voraussetzung eines der (deutschen) protestantischen Theologie vergleichbaren Niveaus geschehen kann, gilt es zunächst, die eigene Theologie im Anschluss an die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Protestantismus auf ein entsprechendes Niveau zu führen. Kennzeichnend für den rezeptiv-enzyklopädischen Ansatz sind deshalb Darstellungen, in denen verschiedene Ansätze protestantischer Theologen gleichwie wissenschaftliche und kirchliche Kontroversen detailreich beschrieben werden, ohne dass dies weiter kommentiert würde. Erkennbar ist vielmehr das Bemühen, einen möglichst präzisen Eindruck von den theologischen und kirchlichen Entwicklungen im Protestantismus zu vermitteln, sich einer Wertung jedoch weitgehend zu enthalten.

Innerhalb der Akademietheologie begegnet dieser Ansatz am häufigsten, bei Vertretern aller Disziplinen. Die Überzeugung, dass in der orthodoxen Theologie erst noch die wissenschaftlichen Grundlagen zu legen seien und dass dies über die Rezeption der protestantischen Theologie zu erfolgen habe, kann deshalb als Konsens unter den Akademietheologen gelten.

Bei dem konfessionell-polemischen Ansatz kann demgegenüber nicht das Interesse an einer sachlichen Auseinandersetzung vorausgesetzt werden. Vielmehr geht es darum, die Überlegenheit der einen über andere Konfessionen unter Beweis zu stellen. Der konfessionelle (und kulturelle) Gegensatz wird mithin in den Vordergrund gerückt. Interessant erscheint dabei, dass dieser Ansatz in beide Richtungen Anwendung findet: der Protestantismus mit seinem »Rationalismus«, »Subjektivismus«, »Liberalismus« kann der Orthodoxie mit ihrem »Theismus«, ihrem »objektiven Wahrheitsbegriff« und ihrer »authentischen Kultur« schroff entgegengesetzt werden. Aber es gibt auch Autoren, die umgekehrt den Protestantismus mit seinem diakonischen Engagement, seiner Ausbildung und Versorgung der Geistlichkeit, seinen wissenschaftlichen Leistungen der in jeder dieser Hinsichten als »rückständig« empfundenen Orthodoxie als Vorbild gegenüberstellen.      

Bei dem konstruktiv-kritischen Ansatz schließlich geht es wie bei dem konfessionell-polemischen Ansatz um eine dezidiert konfessionelle Auseinandersetzung. Der Gegensatz zwischen den Konfessionen tritt mit anderen Worten nicht zurück, sondern ist Gegenstand der Auseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung geschieht jedoch nicht im Sinne der Polemik, sondern der Kritik. Wie bei dem rezeptiv-enzyklopädischen Ansatz ist deshalb ein sachliches Interesse leitend. Entsprechend ist für den konstruktiv-kritischen Ansatz auch nicht das Entweder-Oder des konfessionell-polemischen Ansatzes kennzeichnend, sondern eine differenzierte Sicht auf die andere Konfession. Fragegestellungen, Antworten der anderen Konfession werden auf ihre Berechtigung hin befragt und ggf. übernommen.

 

Liberale orthodoxe Theologie 

Ohne Frage ist der konstruktiv-kritische Ansatz theologisch am interessantesten, weil hier Neues entsteht, ohne dass die konfessionellen Trennlinien einfach übersprungen würden. In dezidierter Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen protestantischen Theologie kam es so an den Akademien zur Ausbildung einer »liberalen orthodoxen Theologie«, die gemeinsame Züge mit der »liberalen protestantischen Theologie«, aber auch charakteristische Unterschiede aufweist. 

Wohl wissend, dass der Begriff »liberale protestantische Theologie« problematisch ist und sich gerade diejenigen, die heute theologiegeschichtlich als »liberale protestantische« Theologen bezeichnet werden, selbst als Kritiker »liberaler«, das hieß zur damaligen Zeit »spekulativer« Theologie, wie sie beispielsweise Otto Pfleiderer vertrat, verstanden haben, lassen sich doch mindestens drei spezifische Kennzeichen liberaler protestantischer Theologie benennen: erstens, die besondere Betonung der Wissenschaftlichkeit der Theologie, die – ganz im Sinne des Diktums Friedrich D.E. Schleiermachers »Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen: das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?«[10] – im Bedarfsfall auch im Gegenüber zum kirchlichen Bekenntnis geltend zu machen ist, zweitens, die Problematisierung der Normativität exegetischer und dogmatischer Aussagen vor dem Hintergrund modernen Geschichtsdenkens und drittens, die Betonung der subjektiven Glaubenserfahrung in Differenz zu dogmatisch-theologischen und kirchlich-institutionellen Objektivitätsansprüchen.

Diese drei Kennzeichen lassen sich auch für die »liberale orthodoxe Theologie« geltend machen, aber in einer – der orthodoxen Konfession entsprechend – modifizierten Weise.

So wird erstens auch hier betont, dass die Theologie allgemein wissenschaftlichen Kriterien zu genügen habe, und dies kann auch hier dazu führen, dass bestimmte kirchliche Überlieferungen in Frage gestellt werden. Der Rahmen bleibt allerdings ein deutlich anderer. Beispielhaft steht dafür die Kontroverse, die zwischen dem Moskauer Theologen Vasilij N. Myšcyn (geb. 1866) und dem Kiever Theologen Nikolaj M. Drozdov über den methodisch angemessenen Umgang mit dem Tobit-Buch geführt wurde. Beide ordnen das Buch Tobit den deuterokanonischen Schriften zu. Myšcyn leitet daraus das Recht ab, alle Zugangsweisen der wissenschaftlichen Kritik anzuwenden,[11] was von Drozdov gerade bestritten wird,[12] da seiner Meinung nach die deuterokanonischen Schriften ebenso wenig wie die kanonischen Schriften Gegenstand historisch-kritischer Forschung werden dürften.[13] In Letzterem waren sich beide aber wiederum einig: die in der protestantischen Theologie geübte Kritik an den kanonischen Schriften, die ihre Echtheit und historische Glaubwürdigkeit in Frage stellt, lässt sich im Rahmen orthodoxer Theologie nicht rechtfertigen.

Zweitens wurde auch in der russischen Theologie die Normativität bestimmter exegetischer und dogmatischer Aussagen vor dem Hintergrund modernen Geschichtsdenkens problematisiert. Beispielhaft zeigen das Bolotovs Thesen zum Filioque. Aber diese Problematisierung bewegte sich – wie bei Bolotov, so auch bei anderen Theologen – nicht über die Unterscheidung von Dogma und theologischer Meinung hinaus; das »Dogma« im Sinne des konziliar kodifizierten Lehrkonsenses der Alten Kirche galt als uneingeschränkt wahr und verbindlich. Als solches war es selbst Norm wissenschaftlicher Kritik, durfte aber nicht sein Gegenstand werden. Schließlich wurde drittens auch in der liberalen orthodoxen Theologie die subjektive Glaubenserfahrung in Differenz zu dogmatisch-theologischen und kirchlich-institutionellen Objektivitätsansprüchen betont. Die zu dieser Zeit geführte soteriologische Debatte macht das ebenso deutlich wie die Reich-Gottes-Lehre des Kiever Theologen Pavel Svetlov (1861-1941). In Hinblick auf Letztere zeigt sich jedoch auch wieder der charakteristische Unterschied zu der liberalen protestantischen Theologie. Denn Svetlov knüpft zwar mit seiner Unterscheidung des Reiches Gottes und der Kirche ausdrücklich an das Reich-Gottes-Verständnis des Göttinger Systematikers Albrecht Ritschl (1822-1889) an. Anders als Ritschl versteht er die Kirche und das Reich Gottes jedoch nicht als die beiden Zentren einer Ellipse. Die Kirche erscheint für ihn vielmehr als Mittelpunkt eines Kreises, der als Ganzes das Reich Gottes darstellt. Die Kirche und das Reich Gottes werden bei Svetlov also viel stärker als bei Ritschl aufeinander bezogen, der kirchlich-institutionelle Aspekt viel stärker betont.[14] 

 

Gründe für die Bezugnahme auf den Protestantismus

Warum wurde in dieser Zeit so intensiv auf die deutsche protestantische Theologie Bezug genommen? Was waren die Gründe dafür?

Am wenigsten wichtig waren wohl Gründe ökumenischer Art. Zwar gab es orthodoxe Theologen dieser Zeit, die am Gespräch mit Altkatholiken und Anglikanern beteiligt waren. Aber die Bezugnahme auf den deutschen Protestantismus erfolgte offenkundig nicht unter dem Vorzeichen einer gesamtkirchlichen Verständigung.

Viel wichtiger war das übergreifende deutsch-russische Verhältnis: Deutschland galt in verschiedener Hinsicht als führend, als »Kulturnation«, als ein Land außerordentlicher wissenschaftlicher Leistungen. Und so sah sich ähnlich wie in anderen Bereichen, zum Beispiel der Rechtswissenschaft,[15] auch die russische Theologie genötigt, sich mit der deutschen Theologie auseinander zu setzen, an diese anzuknüpfen. Das musste, wie oben dargelegt, nicht nur in positiver Weise geschehen. Zumal bei orthodoxen Theologen, die sich slavophilem Ideengut verpflichtet fühlten, konnte das Ziel auch eine deutliche Abgrenzung sein. An der Auseinandersetzung als solcher kamen aber auch sie nicht vorbei. 

Über das deutsch-russische Verhältnis hinaus scheint mir ein weiterer wichtiger Grund darin zu liegen, dass es an den Geistlichen Akademien ein ausgesprochenes Krisenbewusstsein gab, das sich aus dem zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Christentums speiste. Diagnostiziert wurde der Prozess einer »Dechristianisierung«, die »Feindschaft der modernen Weltanschauung gegenüber dem Christentum«. Gerade in diesem Zusammenhang wurde die Bezugnahme auf den deutschen Protestantismus relevant. Denn wie Deutschland als Land galt, in dem bestimmte Entwicklungen sich bereits vollzogen hatten, die man auch in Russland auf sich zukommen sah, so galt auch die deutsche Theologie als – mit der diesem Begriff eigenen Ambivalenz – »fortschrittlich«. Hier waren bestimmte theologische Debatten bereits geführt worden, die in Russland von aktueller Bedeutung waren.[16] Und hier wurden in Auseinandersetzung mit kirchen- und theologiefeindlichen Strömungen bereits Argumente entwickelt, die für die Diskussion in Russland übernommen werden konnten.[17]

Von besonderem Interesse war dabei insofern die liberale Richtung der protestantischen Theologie, als sie nicht nur als theologisch-wissenschaftlich führend, sondern auch – anders als die orthodoxe Theologie in Russland – als gesellschaftlich einflussreich galt: Was liberale Theologen wie Adolf v. Harnack sagten, fand Gehör in der Öffentlichkeit, löste Debatten aus, beeinflusste die gesellschaftliche Meinung. Auf ihre Weise verstand die liberale protestantische Theologie es, sich in die öffentliche Diskussion einzubringen und die säkular geprägte Gesellschaft wieder für religiöse Fragen zu interessieren.[18] Insbesondere die Beschäftigung mit der liberalen protestantischen Theologie barg deshalb für liberale orthodoxe Theologen ein offenbar beträchtliches Potenzial, um für sich zu erschließen, in welche Richtung sich die orthodoxe Theologie entwickeln müsste, um auch unter den sich verändernden Bedingungen ein gesellschaftlich relevanter Faktor zu bleiben.[19] Der Differenz zur liberalen protestantischen Theologie blieb man sich dabei sehr wohl bewusst und das Bestreben ging natürlich nicht dahin, diese Differenz einzuebnen. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit der liberalen protestantischen Theologie diente vielmehr zugleich immer auch dazu, sich von den liberalen Strömungen im eigenen Land (vor allem Lev N. Tolstoj) abzusetzen.

 

Konsequenzen für den gegenwärtigen Dialog

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dieser Phase der russischen Theologiegeschichte und ihrer Rezeption und Kritik des Protestantismus für den gegenwärtigen Dialog zwischen EKD und ROK ziehen? 

Abgesehen davon, dass sich die Ergebnisse historischer Forschung nicht unmittelbar in die Gegenwart übertragen lassen, scheint mir diese Phase doch zu zeigen, welche Bedeutung der akademische Austausch für den kirchlichen Dialog haben kann. 

Denn in der russischen Theologie dieser Zeit wurden nicht nur konfessionelle Kontroverspunkte markiert, sondern im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit der protestantischen Theologie auch neue theologische Denkwege eingeschlagen. Dass diese für den ökumenischen Dialog im 20. Jahrhundert wegweisend waren, macht beispielsweise das ökumenische Engagement von Georgij Florovskij deutlich, das nicht zuletzt auf der russischen Theologie des ausgehenden 19., beginnenden 20. Jahrhunderts fußt. 

Auch zeigt diese Phase der russischen Theologiegeschichte, dass hier im Rahmen akademischer Forschung bereits Ansätze entwickelt wurden, die in hohem Maße anschlussfähig waren, hier also bereits in präökumenischer Zeit eine ökumenische Annäherung geschah, die sich dem Spielraum akademischer Freiheit verdankte. Die Voraussetzung dafür auf russischer Seite war freilich eine herausragende Kenntnis der deutschen Sprache und deutschen theologischen Literatur.  

Ganz konkret ergeben sich für mich deshalb drei Schlussfolgerungen:

  1. Der akademische Austausch hat sein eigenes Recht; er muss als Voraussetzung und Ergänzung des/eines offiziellen kirchlichen Dialoges verstanden werden.
  1. Voraussetzung für einen ertragreichen akademischen Austausch sind Sprach- und Kulturkenntnisse. Was ja bereits schon geschieht, müsste gerade auch im Interesse eines kirchlichen Dialoges intensiviert werden: die Förderung von Studienaufenthalten im anderen Land.
  1. Akademische Theologie auf beiden Seiten müsste sich viel stärker noch als Laboratorium ökumenischer Entwürfe verstehen, in welchem die Grenzen ökumenischer Verständigung ausgelotet werden – indem sie sich den Denkbewegungen der jeweils anderen Konfession in Einfluss und Abgrenzung tatsächlich aussetzt, um auf diese Weise zu theologischen Ansätzen zu gelangen, die angesichts von Prozessen der »Dechristianisierung« als ökumenische Stimme auch Gehör finden. 


[1] Vgl. Georgij Florovskij, Wege der russischen Theologie, Paris 1937 (unveränderter Nachdruck Vilnius 1991), 332.

[2] Vgl. Michael Hübner, Bolotov, in: RGG 1, 41998, 1677.

[3] Vgl. Vasilij V. Bolotov, Thesen über das Filioque, in: RITh 6, 1898, 681-712.    

[4] In: RE 17, 31906, 251.

[5] Vgl. ders., Lehrbuch der Vergleichenden Confessionskunde, Bd. 1. Prolegomena und erster Theil. Die Orthodoxe Anatolische Kirche, Sammlung Theologischer Lehrbücher 1, Freiburg i.Br. 1892, 286f – Hervorhebungen im Original. 

[6] Harnack, Adolf v., Rez. Glubokowski, in: ThLZ 20, 1890, 502f.

[7] Möhler, Johann Adam, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, Regenburg 8/91913, 3.

[8] Vgl. Loofs, Friedrich, Symbolik oder christliche Konfessionskunde, Bd. 1, Grundriss der Theologischen Wissenschaften 4, Tübingen/Leipzig 1902, 162.

[9] Vgl. ders., Lehrbuch, 285.

[10] Schleiermachers Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke, hg. v. Hermann Mulert, SGNP 2, Gießen 1908, 37 (Aus dem 2. Sendschreiben).

[11] Myšcyn, in: Bogoslovskij Vestnik, 1902/12, 653f.

[12] Vgl. Drozdov, in: Trudy, 1902/10, 330.

[13] Vgl. Drozdov, in: Trudy, 1902/11, 464.

[14] Vgl. Wasmuth, Jennifer, Der Protestantismus und die russische Theologie. Zur Rezeption und Kritik des Protestantismus in den Zeitschriften der Geistlichen Akademien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, FSÖTH 113, Göttingen 2007, bes. 277-296.  

[15] Vgl. Beyrau, Dietrich/Cicurov, Igor’/Stolleis, Michel (Hg.), Reformen im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts. Westliche Modelle und russische Erfahrungen, Ius Commune Sonderheft 86, Frankfurt a.M. 1996.

[16] Vgl. dazu M.E. Posnov, der in seinem Artikel »Neue Typen der Konzeption der Geschichte der Alten Kirche« (in: Christianskoe Čtenie, 1908/12, 1620-1635) seine genaue Darlegung der Konzeption der Tübinger Schule vor allem damit begründet, dass, wenn auch die Thesen dieser Schule wissenschaftlich bereits überholt seien, die Bücher derjenigen Theologen, die für diese Schule stehen, »bei uns in den letzten Jahren die Büchermärkte überschwemmt haben«, dieser »im Westen längst vergessenen Autoren« (1635). 

[17] Dimitrij I. Bogdaševskij hebt so in einer Rezension der 1906 erschienenen russischen Übersetzung von Adolf v. Harnacks »Wesen des Christentums« positiv hervor, dass Harnack Argumente gegen Ernest Renan liefere, vgl. Bogdaševskij, in: Trudy, 1907/9, 151–155.

[18] Petr Leporskij stellt so in einer ausführlichen Analyse von Adolf v. Harnacks »Wesen des Christentums« (vgl. Leporskij, in: Christianskoe Čtenie, 1903/I, 12–31; 1903/I, 211–236; 1903/I, 408–422) heraus, dass Harnack sich damit »an den Menschen ›unserer Zeit‹« zu wenden verstehe, an diejenigen, die »in der Sphäre der modernen wissenschaftlichen Anschauungen« (in: Christianskoe Čtenie, 1903/I, 13) aufgewachsen sind. Dies zeigt sich für ihn u.a. an der hohen Auflagenzahl, dem breiten Lesepublikum, der Übersetzung in verschiedene Sprachen.

[19] So wird man die breite Rezeption von Adolf v. Harnacks »Wesen des Christentums« u.a. darin begründet sehen dürfen, dass in der Bestimmung des Wesens des Christentums durch Harnack ein wichtiger Versuch erkannt wurde, auf moderne Krisenphänomene eine Antwort zu geben. Angesichts der eigenen Suche nach Orientierung bot sich deshalb die Auseinandersetzung gerade mit diesem Werk Harnacks an, wie es beispielhaft bei Nikolaj N. Glubokovskij geschieht, der – offensichtlich durch Harnacks »Wesen des Christentums« veranlasst –  nach der »Orthodoxie ihrem Wesen nach« (in: Christianskoe Čtenie, 1914/1, 3) fragt.  

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